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Funktionelle neurologische Störungen Wie ein schlecht eingespieltes Orchester im Kopf

DGN 2023 Autor: Friederike Klein

Bei funktionellen Störungen ist die Kommunikation das A&O. Bei funktionellen Störungen ist die Kommunikation das A&O. © NoLimitStudio – stock.adobe.com
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Bei funktionellen Störungen sind Neurologen schnell mit ihrem Latein am Ende. Doch neben dem Erkennen einer solchen Störung gehört es auch zu den fachärztlichen Aufgaben, die Diagnose gut zu kommunizieren und die Transition der Patienten in ein geeignetes Behandlungssetting zu begleiten.

Störungen, für die sich keine organische Ursache feststellen lässt, sind in der Neurologie vergleichsweise häufig. In einer Kohorte von 980 Patienten im Alter ab acht Jahren, die zunächst die Diagnose eines Status epilepticus erhielten, lag beispielsweise die Rate von prolongierten psychogenen, nicht-epileptischen Anfällen bei 8 %. Unter den Adoleszenten und jungen Erwachsenen waren es sogar 20 %, berichtete PD Dr. ­Stoyan ­Popkirov von der Universitätsmedizin Essen. Allgemein finden sich in neurologischen Notaufnahmen je nach Quelle 5–10 % der Patienten, bei denen eine erste Diagnose wie Schlaganfall, Schwindel oder Bewegungsstörung später in die einer funktionellen Störung geändert werden muss. In Spezialambulanzen ist der Anteil noch höher.

„Wir können es uns daher gar nicht leisten, diese Krankheitsbilder weniger zu beachten als andere“, so Dr. Popkirov. Funktionelle Störungen gehörten zum Alltag in der Neurologie. Bewusst produziert oder gar vorgespielt seien die Symptome nicht. „Die Störung entsteht am Bewusstsein vorbei.“ In der Psychodynamik spreche man deshalb auch von einer „unbewussten Inszenierung“, erklärte der Kollege.

Bestimmte anamnestische Hinweise sprechen für eine funktionelle Störung, erläuterte PD Dr. ­Anne ­Weißbach vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck. Dazu gehören: 

  • plötzliches erstmaliges Auftreten
  • Trigger ohne objektiven Kausalzusammenhang, die eine große Bedeutung für die Betroffenen haben
  • Phänomenologie und Schwere schwanken
  • die Störung wird wie von außen gemacht beschrieben („es kommt über mich, ich kann es nicht beeinflussen“)
  • Müdigkeit, Konzentrationsstörungen und Schmerzen werden häufiger als bei anderen Psychopathologien berichtet

Häufig sind auch die Sym­ptom­konstellationen inkongruent zu denen, die bei organisch begründeten Störungen typischerweise auftreten. Stattdessen findet man ein Pot­pourri an Beschwerden, das nicht den Gesetzmäßigkeiten der Neuroanatomie und -physiologie folgt. Eine gewisse Inkonsistenz ist ebenfalls typisch: Die Symptome sind bei Untersuchung der betroffenen Körperregion am stärksten, also durch Aufmerksamkeitsverlagerung modulierbar. Bei erschwerten Aufgaben verändert sich meist die Phänomenologie. 

Die Vermittlung der Diagnose ist ein Schlüsselmoment der Behandlung, betonte Dr. Weißbach. Die richtige Kommunikation könne selbst therapeutisch wirksam sein – und legt den Grundstein für einen weiterführenden Therapieerfolg. Dr. Weißbach erklärt den Betroffenen, dass zwar eine isolierte strukturelle Läsion fehlt, es aber ein Netzwerkproblem gibt. „Wie bei einem Orchester, bei dem zwar alle Musiker da sind, aber das Zusammenspiel nicht gut klappt.“ Eine weitere hilfreiche Problembeschreibung ist die eines Computers mit intakter Hardware, bei dem es aber Softwareprobleme gibt. Ziel der Verwendung dieser Metaphern ist es, dass die Patienten Selbstwirksamkeit erlangen. Das fällt durchaus in den Aufgabenbereich des Neurologen, so Dr. Weißbach. Denn dieser spielt eine wesentliche Rolle für die Transition des Patienten in die Rehabilitation oder eine psychiatrische Versorgung. 

Die stationäre Therapie funktioneller Bewegungsstörungen erfolgt multimodal und individuell auf den Patienten abgestimmt. „Es gibt mehrere Wege zum Ziel. Wir müssen sehen, was dem Patienten am besten hilft“, betonte Dr. Tamara Schmidt von der Parkinsonklinik in Beelitz-Heilstätten. Aktiv fragen sollte man nach Symptomen einer möglichen posttraumatischen Belastungsstörung, einer Depression oder Angsterkrankung. Chronische Schmerzen, Persönlichkeitsstörungen und dissoziative Erfahrungen sollten ebenfalls abgeklärt werden. „Das erzählen die Patienten nicht von selbst“, so Dr. Schmidt.

Für die Psychotherapie ist die motivorientierte Beziehungsgestaltung hilfreich, damit der Patient eine Bereitschaft zur Veränderung aufbaut. Weitere Elemente einer Psychotherapie sind:

  • die Entwicklung eines Störungskonzepts
  • das Trainieren der Körperwahrnehmung, die oft in der betroffenen Seite schlechter ist
  • die Förderung von Selbstwirksamkeit
  • die Integration traumatischer Erlebnisse 
  • die Einigung auf eine weitere Behandlungsperspektive

In der Behandlung können Situationen aufgegriffen werden, in denen die Symptome geringer waren. Übende Verfahren helfen bei Körperwahrnehmung, Aufmerksamkeitslenkung und Entspannung. Wichtig sei es aber, etwa in der Physiotherapie keine Bewegungsabläufe zu forcieren, die dem Patienten nach eigener Aussage nicht möglich sind. Das verstärke oft funktionelle Phänomene. Wenn die Patienten selbst neue Bewegungen initiieren, können sie ihre motorischen Möglichkeiten schrittweise erweitern. 

Stationäre Angebote dieser Art gibt es allerdings bislang kaum. Ambulant kann ein erfahrener Physiotherapeut die Therapie unterstützen – doch auch davon gibt es bundesweit nicht allzu viele. Die DGN sei bemüht, Behandlungsleitlinen zu erarbeiten und Fortbildungscurricula zur Verfügung zu stellen, sagte Dr. Schmidt und bot an: „Physio- und Psychotherapeuten, die mit solchen Patienten arbeiten, können uns aber auch direkt kontaktieren.“

Wenn die Patienten eine medikamentöse Therapie ausprobieren möchten, sollte man vorab besprechen, wie lange man den Behandlungsversuch laufen lassen möchte. Einer zentral dämpfenden Medikation bei akuten funktionalen Anfällen erteilte Dr. Popkirov eine klare Absage: „Wenn sie unbedingt ein Benzodiazepin geben wollen, geben Sie es sich selbst.“ Wichtig sei vielmehr eine einfühlsame und respektvolle Begleitung. Dazu gehöre es auch, eine ruhige Umgebung zu schaffen – dafür müsse man manchmal Angehörige hereinbitten, sie in anderen Fällen aber auch herauskomplimentieren, so Dr. Popkirov.

Quelle: Kongressbericht DGN-Kongress 2023 (Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.)