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Hämatoonkologie Wie Sie Erkrankten jenseits der 80 gerecht werden

EHA 2023 Autor: Lara Sommer

Ein geriatrisches Assessment unterstützt die älteren Patient:innen der Hämatoonkologie bei einer partizipativen Entscheidungsfindung. Ein geriatrisches Assessment unterstützt die älteren Patient:innen der Hämatoonkologie bei einer partizipativen Entscheidungsfindung. © peopleimages.com– stock.adobe.com
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Mit dem demografischen Wandel nimmt die Zahl betagter Patient:innen in der Hämatoonkologie zu. Was weiß man über die Therapieintensität im hohen Alter und wie kann ein geriatrisches Assessment die partizipative Entscheidungsfindung unterstützen?

Menschen, die mindestens 80 Jahre alt sind, machen heute 5–6 % der EU-Bevölkerung aus, bis 2050 erwarten Statistiker:innen einen Anstieg auf 10 %. Außerdem liegt der Altersgipfel der meisten hämatologischen Malignome bei deutlich über 70 Jahren, stellte PD Dr. ­Valentin ­Goede vom St. Marien-Hospital in Köln fest.1 Je älter die Patient:innen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie geriatrische Symptome wie Sarkopenie oder Demenz aufweisen sowie bereits mehrere Medikamente einnehmen. Die Therapie von Senior:innen sollte sich nach dem Gesundheitszustand richten, aber einige Scores bewerteten Personen ab 80 Jahren grundsätzlich als unfit.

„Ein weiterer Punkt ist, dass wir natürlich eine Unterrepräsentation von Menschen, die älter als 80 sind, in klinischen Studien haben“, kritisierte der Referent. Patient:innen in der neunten Lebensdekade stellten auch unter älteren Betroffenen mit hämatologischen Malignomen eine gesonderte Gruppe dar. Bahnbrechende RCTs mit betagten Erkrankten schlossen nicht genug Personen jenseits der 80 ein, um die Ergebnisse für diese Population zu extrapolieren. Nur wenige Studien beschäftigten sich explizit mit dieser Altergruppe. Bezüglich der Behandlung von Patient:innen ab 80 Jahren mit ­DLBCL, CLL, AML und MM (s. Kasten) resümierte Dr. ­Goede: „Weniger ist mehr, aber noch weniger ist nicht mehr, sondern zu wenig.“

Allgemein wollen Betroffene immer stärker einbezogen werden. Neben der Diagnose beeinflusst auch die gesundheitliche Verfassung die partizipative Entscheidungsfindung, erinnerte Dr. ­Marije M. ­Hamaker vom Diakonessenhuis in Utrecht.2 In diesem Kontext komme gegebenenfalls ein geriatrisches Assessment ins Spiel, welches die Vulnerabilität alter Patient:innen beurteilt. „In der Onkologie und Hämatologie können wir das geriatrische Assessment nutzen, um den Gesundheitszustand der betroffenen Person zu optimieren; es sollte auch verwendet werden, um die Behandlung anzupassen“, führte die Referentin aus. Die meisten Studien stimmen überein, dass sich dies positiv auf die Rate von Komplikationen und Toxizitäten auswirkt. Die Erkrankten führen die vorgesehene Therapie häufiger zu Ende und auch Parameter wie die Mobilität verbesserten sich. Die Expertin betonte jedoch, dass ein geriatrisches Assessment die Mortalität nicht beeinflusse. 

Es biete auch einen Aufhängungspunkt, um über Fitness und Vulnerabilität ins Gespräch zu kommen. In einer Studie fanden im Anschluss an ein geriatrisches Assessment viermal mehr altersbezogene Konversationen statt; Patient:innen und medizinisches Personal zeigten sich zufriedener mit der Kommunikation. Außerdem lag doppelt so häufig eine Patient:innenverfügung vor und es erfolgte eher ein Austausch über Behandlungsziele am Lebensende.

Man müsse stets berücksichtigen, ob die getroffene Therapieentscheidung für diese spezielle Person intellektuell, praktisch und emotional Sinn ergebe. „Zum Leben gehört mehr als Überleben. Wenn du ein Jahr gewinnst, aber dieses Jahr im Pflegeheim verbringst, war das wirklich ein Behandlungserfolg?“, gab Dr. Hamaker zu bedenken. Senior:innen hätten oft andere Prioritäten als jüngere Erkrankte. Ältere Patient:innen akzeptierten Toxizitäten weniger, und was das Leben lebenswert mache, sei sehr persönlich. „Es kann bedeutsam sein, nicht nur zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung zu fragen, sondern sich auch im Krankheitsverlauf zu erkundigen: Ist das immer noch, was dir wichtig ist?“, fügte die Ärztin hinzu. 

Sie stellte ein Outcome Priorisation Tool vor, bei dem die Betroffenen auf Skalen gewichten, wie viel ihnen Lebenserwartung, Unabhängigkeit, Symptomlinderung und Minimierung von Nebenwirkungen relativ bedeuten. Sie riet dazu, klarzustellen, dass die Patient:innen nicht alle Faktoren auf eine Ebene setzen sollen. Das verdeutliche Letzteren auch, dass eine Abwägung zwischen den Therapiezielen getroffen werden muss.

Zahlen zur Therapie ab 80

DCBL

  • Zwei-Jahres-OS mit einer anthrazyklinhaltigen Chemoimmuntherapie: 48–74 %
  • Zwei-Jahres-OS bei Aussparung von Anthrazyklinen: 28–53 %
  • medianes OS ohne Therapie: zwei Monate
  • reduzierte Dosisintensität von ­R-CHOP nicht eindeutig mit Überlebens-Nachteil verbunden

Follikuläres Lymphom

  • Menschen ≥ 80 Jahre profitieren hinsichtlich des OS von einer Therapie

CLL

  • Zwei-Jahres-OS mit Chemoimmuntherapie von etwa 80 %
  • keine Daten zu zielgerichteten Wirkstoffen verfügbar

MM

  • Therapie allgemein mit längerem Überleben assoziiert
  • Bortezomib mit Dexamethason verbessert Zwei-Jahres-OS. Prognose hängt stark vom ECOG-Status ab

AML

  • Real-World-Studie mit 12.000 US-Patient:innen: nur 41 % erhielten Chemotherapie, darunter 7 von 10 eine Einzelsubstanz; medianes OS 1–2 Monate, mit Therapie tendenziell besser als ohne
  • OS unter Azacytidin-Monotherapie besser, beträgt aber weiterhin weniger als ein Jahr
  • Venetoclax könnte zusätzlichen Nutzen bringen, aber sehr geringe Fallzahlen in Studien 

Das „Warum“ verstehen

„Partizipative Entscheidungsfindung bedeutet nicht einfach, den oder die Betroffene zu fragen, was er oder sie will. Es ist wichtig, sich die Zeit zu nehmen, um das Warum zu verstehen, und es dann in eine Behandlungsentscheidung zu übersetzen“, fasste Dr. ­Hamaker die Aufgabe der Ärzt:innen zusammen. Man solle niemals Optionen anbieten, die aus klinischer Sicht keinen Sinn ergeben. Der Patient:innenwille sei individuell und könne sich mit der Zeit verändern. Er beruhe möglicherweise auf vergangenen Erfahrungen, Ängsten oder Fehlannahmen. So habe einmal eine fitte 81-jährige Patientin mit frühem Brustkrebs eine Operation verweigern wollen. Die Seniorin leitete aus der durchschnittlichen Lebenserwartung ab, sie habe nur noch ein Jahr zu leben, und müsse für die Tumor-Op zwei Wochen davon im Krankenhaus verbringen. Nachdem die Referentin ihr versicherte, in ihrem Gesundheitszustand könne sie noch 15 Jahre älter werden und man entlasse sie bald nach dem Eingriff, willigte sie ein.

Kognitive Einschränkungen seien im hohen Alter häufiger als meist angenommen und in der Klinik leicht zu übersehen. Aus Sicht Dr. ­Hamakers stellt es einen Hinweis dar, wenn sich der oder die Angesprochene zur Begleitperson umdreht, statt direkt auf eine Frage zu antworten. Im Zuge der partizipativen Entscheidungsfindung müssten Ärzt:innen beurteilen, ob das Gegenüber fähig ist, die Informationen zu verstehen und einzuordnen, logisch zu schlussfolgern sowie eine Entscheidung zu treffen und zu kommunizieren. Die Referentin schlug vor, dass man Patient:innen durch Nachfragen animiert, besprochene Inhalte in eigenen Worten wiederzugeben.

Quellen:
1.     Goede V. EHA2023 Hybrid Congress; Vortrag „The hematologist perspective: When less becomes more: The balance between effectiveness and tolerability in octogenarians with hematological malignancies“
2.     Hamaker MM. EHA2023 Hybrid Congress; Vortrag „The geriatrician perspective: Share decision-making in older patients with cancer - The role of the comprehensive geriatric assessment“