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Multiple Sklerose Alt werden mit MS

Autor: Dr. Andrea Wülker

Vor allem das chronologische Alter erhöht das Risiko für einen progredienten Verlauf bei Multipler Sklerose. Vor allem das chronologische Alter erhöht das Risiko für einen progredienten Verlauf bei Multipler Sklerose. © Minerva Studio – stock.adobe.com
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Mit fortschreitendem Alter steigt das Risiko, dass eine Multiple Sklerose einen chronisch progredienten Verlauf nimmt. Dass die derzeit verfügbaren krankheitsmodifizierenden Medikamente in diesem Stadium schlecht wirken, hängt offenbar mit biologischen Alterungsprozessen zusammen.

Das chronologische Alter der Patienten ist der größte Risikofaktor für einen progredienten Verlauf der Multiplen Sklerose. Das liegt offenbar daran, dass Alterungsprozesse im Immunsystem und dem ZNS eng mit den klinischen und pathologischen Merkmalen der Erkrankung verknüpft sind, schreibt ein Forscherteam um die Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. ­Jennifer ­Graves von der University of California, San Diego.

Bei Kindern verläuft die Krankheit ausnahmslos schubweise. Auch bei einer Erkrankung im jüngeren Erwachsenenalter sind Schübe mit einer zwischenzeitlichen Rückbildung der Symptome typisch. Erst nach rund 15 bis 20 Jahren Krankheitsdauer setzt bei rund der Hälfte der Patienten eine sekundär progrediente Phase ein, die sich durch eine stetige Verschlechterung der Symptome statt eines schubweisen Verlaufs äußert. Das Alter bei Erkrankungsbeginn ist dabei ein Risikofaktor für das Auftreten von Behinderungen durch einen progredienten Verlauf. Die primär progrediente MS (PPMS), bei der von Anfang an keine Schübe auftreten, entwickelt sich meist erst nach dem 40. Lebensjahr.

Verschiedene körperliche Veränderungen im Alter beeinflussen die Pathophysiologie der MS, den Behinderungsgrad und auch das Ansprechen auf die Therapie:

  • Prozesse wie Telomerverkürzung oder zelluläre Seneszenz in peripheren Immunzellen und ZNS-Zellen (Astrozyten, Mikroglia) wirken pro­inflammatorisch.
  • Veränderungen in den Mitochondrien wie hypoxischer Stress, eine Störung der Energieversorgung und mitochondriale Funktionsausfälle in verschiedenen Zellen können bei MS-Patienten ebenfalls zu altersassoziierten pathologischen Veränderungen führen.
  • Der Abfall der Sexualhormonspiegel kann MS-Krankheitsmerkmale beeinflussen oder zum Übergang in eine progrediente MS beitragen.
  • Das Mikrobiom und das Immunsystem beeinflussen sich während der gesamten Lebensspanne gegenseitig. Immunregulatorische mikrobielle Substanzen, die aus dem Darm in den Blutkreislauf diffundieren, können die Blut-Hirn-Schranke passieren und bestimmte Eigenschaften der Glia modulieren. Ein mit dem Alter zunehmend permeables Darmepithel verstärkt diesen Prozess.
  • Altersassoziierte vaskuläre und metabolische Begleiterkrankungen (Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes, ischämische Herzkrankheit, zerebrovaskuläre Erkrankungen) treten bei MS-Patienten häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung. Diese Komorbiditäten wirken sich auf den MS-Verlauf ungünstig aus, indem sie u.a. zu Veränderungen der weißen Substanz führen und eine raschere Zunahme der Behinderung begünstigen.

Diese altersassoziierten Veränderungen sollten im MS-Management berücksichtigt werden. So weiß man, dass die verfügbaren immunmodulierenden oder supprimierenden Therapien auf das Fortschreiten der Behinderung kaum einen Einfluss haben. Das spricht dafür, dass nicht nur periphere Entzündungsvorgänge das Fortschreiten der Behinderung anstoßen, sondern dass andere biologische Mechanismen dafür eine wesentliche Rolle spielen. Dazu passt die Beobachtung, dass bei über 60-jährigen Patienten, die seit mindestens zwei Jahren nur eine geringe Krankheitsaktivität aufweisen, krankheitsmodifizierende Medikamente oft abgesetzt werden können, ohne dass ein Schub oder neue T2-Läsionen im MRT auftreten.

Wenn MS-Patienten älter werden, sollte das Nutzen-Risiko-Verhältnis der üblichen krankheitsmodifizierenden Medikamente regelmäßig überprüft werden, betonen die Autoren. Zudem gewinnen symptomatische Interventionen in dieser Krankheitsphase an Bedeutung. In verschiedenen Situationen kann eine Modifikation der Therapie erforderlich werden. Als Beispiele nennen Prof. Graves und Kollegen, wenn sich eine Hypertonie unter Teriflunomid oder einem Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator verschlimmert, wenn der Patient eine weitere Injektionstherapie ablehnt oder wenn es unter Natalizumab zu einer Serokonversion bezüglich des John-Cunningham-Virus (JCV) kommt.

MS-Patienten benötigen im Alter oft mehr Unterstützung als Gesunde. Rehabilitationsmaßnahmen können sehr hilfreich sein. Dabei sollte es insbesondere darum gehen, die Funktion der oberen Extremitäten aufrechtzuerhalten, Stürze zu vermeiden und kognitive Defizite zu kompensieren. Schließlich weisen die Kollegen darauf hin, dass ältere Menschen häufig eine Vielzahl an Medikamenten einnehmen. Auch die regelmäßige Überprüfung der Medikamentenliste, um potenzielle Arzneimittelinteraktionen zu vermeiden, ist für die Patienten wichtig.

Quelle: Graves JS et al. Lancet Neurol 2022; DOI: 10.1016/S1474-4422(22)00184-3