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Gangstörungen Aus dem Tritt gekommen

Autor: Dr. Melanie Söchtig

Der Anteil der Patienten, die an einer Gangstörung leiden, steigt mit dem Alter kontinuierlich an. Der Anteil der Patienten, die an einer Gangstörung leiden, steigt mit dem Alter kontinuierlich an. © Oleg – stock.adobe.com
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Gangveränderungen sind selbst für Hochbetagte keine unvermeidliche Alterserscheinung. Vielmehr liegen in der Regel zerebrovaskuläre oder neurodegenerative Erkrankungen zugrunde. Daher ist stets eine ausführliche internistische und neurologische Untersuchung erforderlich.

Selbst unter den Hochbetagten hat jeder Fünfte keine Probleme beim Gehen. Deshalb sollten Gangschwierigkeiten auch bei älteren Menschen nicht als normal oder gar unausweichlich akzeptiert werden, schreiben Neurologen und Altersmediziner um Dr. Sarah Mendorf von der Uniklinik Jena. Stattdessen deuten solche Beschwerden oft auf eine zugrunde liegende Pathologie hin.

Der Anteil der Patienten, die an einer Gangstörung leiden, steigt mit dem Alter kontinuierlich an. Während es bei den unter den 60-Jährigen nur 15 % betrifft, sind es bei den über 70-Jährigen schon 35 % Die Folgen sind für die Betroffenen oft dramatisch: Eine Gangbildveränderung geht häufig mit dem Verlust der Selbstständigkeit einher; sie erhöht das Risiko von Stürzen und führt insgesamt zu einer verminderten Lebensqualität.

Am Beginn der Diagnostik steht die Fahndung nach den klinischen Anzeichen einer Grunderkrankung oder Schmerzquellen. Dann erst folgen die systematische Beurteilung des Gangs, eine umfassende Anamnese sowie die vollständige körperliche und neurologische Untersuchung. Bei der Gangbeurteilung ist beispielsweise auf die allgemeine Körperhaltung zu achten, auf die Stellung von Becken, Hüfte und Knien sowie auf Fußdeformitäten. Darüber hinaus ist die Bewertung von Gelenkbeweglichkeit und Muskelkraft sinnvoll

Den Gang in verschiedenen Situationen beurteilen

Optimalerweise beurteilt man den Gang unter verschiedenen Bedingungen und bei unterschiedlicher Geschwindigkeit – von vorne und hinten und von der Seite. Folgende Aspekte sollten dabei nacheinander beob-achtet werden: Kopf- und Rumpfposition, Armschwung, Beckenrotation, Hüft- und Kniebewegung, Knöchel- und Fußstellung, Geschwindigkeit, Schrittlänge, Zehenabstand, Anzeichen von Freezing (dem „Einfrieren“ der Bewegung) sowie die Symmetrie des Gangs.

Wertvolle diagnostische Hinweise liefert der Umgang der Betroffenen mit Herausforderungen. So fällt es manchen Patienten schwer, in engen Räumen loszulaufen, oder sie zeigen in solchen Situationen eher Freezing. Bei Parkinsonkranken verbessert sich die Muskelblockade in der Regel durch visuelle, auditive oder mentale Hilfestellungen. Liegen höhergradigen Gangstörungen vor (die auf eine defizitäre kortikale Kontrolle zurückgehen), helfen diese dagegen typischerweise nicht. Hinweise auf eine kognitive Dysfunktion können sich bei der Durchführung von Sekundäraufgaben während des Gehens ergeben (Probleme mit Dual-Tasking).

Um das reaktive Gleichgewicht zu überprüfen, bietet sich der Push-and-Release-Test an. Dabei lehnt sich der Patient leicht mit dem Rücken gegen die Hände des Untersuchers, der diese dann unvermittelt wegzieht. Je weniger Ausfallschritte benötigt werden, um einen Sturz zu vermeiden, desto besser.

Der Timed-up-and-go-Test ist ein bewährtes Mittel, um die Ganggeschwindigkeit zu quantifizieren. Hierbei wird die Zeit gemessen, die der Patient benötigt, um von einem Stuhl mit Armen aufzustehen, drei Meter zu gehen, sich umzudrehen, zurückzugehen und sich wieder hinzusetzen.

Zur Überprüfung der kognitiven Funktionen sollten validierte Fragebogen verwendet werden. Gleiches gilt für die Evaluation von affektiven Symptomen (z.B. Depression) und der Angst vor Stürzen. Darüber hinaus gilt es, nach dem Schuhwerk, dem Sehvermögen (mit und ohne Korrektur) sowie den tägliche Routinen und Herausforderungen zu fragen und zu beurteilen, inwiefern diese zur Gangstörung beitragen. Es stehen verschiedene Ratingskalen, Wearables und andere Sensoren zur Verfügung, um den Schweregrad von Gangstörungen sowie das Sturzrisiko einzuordnen.

Breites Spektrum pathologischer Ursachen

Häufige Gangstörungen im Alter und mögliche Ursachen
dafür sind:

  • Antalgischer Gang: z.B. Arthrose, Knöchelverstauchung, Frakturen
  • Schwäche mit Spastik: z.B. Zerebralparese, Rückenmarksverletzung, Apoplex
  • Gangschwäche mit neuropathischer Schwäche: z.B. Radikulopathie, periphere Neuropathie, Plexopathie
  • Myopathischer Gang: z.B. Myopathie, Sarkopenie
  • Parkinsonoider (extrapyramidaler) Gang: z.B. (atypisches) Parkinson-Syndrom, Demenz, subkortikale vaskuläre Enzephalopathie
  • Frontaler (apraxischer) Gang: z.B. Alzheimer, frontotemporale Lobärdegeneration, raumfordernde Läsionen/Tumore des Frontal­lappens
  • Ataktischer Gang: z.B. Polyneuropathie, Schlaganfall, Tumor im Kleinhirn
  • Vestibuläres Gangbild: z.B. Vestibulopathie, benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, Morbus Menière
  • Gangveränderungen in Gegenwart von Affektstörungen: z.B. Depression
  • Funktionelle Ganganomalie: z.B. funktionelle Bewegungsstörung

Insbesondere bei älteren Patienten kommen darüber hinaus noch weitere Ursachen für eine Gangstörung infrage, darunter Elektrolytstörungen, das Sturzrisiko erhöhende Medikamente sowie die zervikale spondylotische Myelopathie, eine degenerative Erkrankung der Halswirbelsäule.

Quelle: Mendorf S et al. internis­tische praxis 2022; 65: 468-482