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Autismus: 40 Jahre das Haus nicht verlassen

Autor: Michael Brendler

Der Mann hatte seit der Schulzeit keinen Kontakt mehr zur Außenwelt. (Agenturfoto. Mit Model gestellt.) Der Mann hatte seit der Schulzeit keinen Kontakt mehr zur Außenwelt. (Agenturfoto. Mit Model gestellt.) © fotolia/Photographee.eu
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Frühförderung gilt bei autistischen Kindern heute als selbstverständlich. Sie kann die Prognose der Betroffenen deutlich verbessern. Was passiert, wenn Fördermaßnahmen unterbleiben, zeigt das tragische Beispiel eines Hamburger Patienten.

Eigentlich sollte man einen solchen Fall heute nicht mehr für möglich halten. Seit seiner Schulzeit hatte der 60-jährige Mann, den Rüdiger­ Kurz vom Sozialpsychia­trischen Dienst Hamburg-Wandsbek im Juni 2016 besuchte, sein Zuhause nicht mehr verlassen. Nach dem Tod des Vaters hatte er dort allein mit der Mutter gelebt, berichtete der Neurologe. Von den anderen Kindern war er in der Schule immer wieder gehänselt worden, da hatten ihn die Eltern gleich zu Hause behalten.

Keine Arztbesuche, keine Krankenversicherung

Kein Schulabschluss, Jahrzehnte lang kein Besuch, kein Hausarzt, noch nicht einmal eine Krankenversicherung – das war der Stand der Dinge, als Schwester und Nichte den Dienst zur Hilfe riefen. Dessen Mitarbeiter trafen auf einen Mann, der nicht nur offenkundig massiv in seinem Sozialverhalten gestört war, sondern auch schwerwiegende körperliche Symptome aufwies: Ein bereits nekrotisierendes Ulkus am rechten Fuß und eine sich langsam ausbreitende spastische Tetraparese.

In dem Krankenhaus, das sich trotz des fehlenden Versicherungsschutzes des Mannes erbarmte, stellte man wenig später auch eine chronische Niereninsuffizienz und eine arterielle Hypertonie fest. Als kompliziert erwies sich die Suche nach der Ursache der Lähmungen: Zerebrale Mikroangiopathie lautete schließlich die Diagnose angesichts der multiplen MRT-Signalanhebungen in weiten Gehirnbereichen.

Verhaltenstherapie lohnt sich auch bei Erwachsenen

An der Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung hatten bereits die Erzählungen der Angehörigen wenig Zweifel gelassen: Schon als kleiner Junge, berichtete die Schwester, ließ der Bruder körperliche Nähe nicht zu, auch Augenkontakt wurde vermieden. Gleichzeitig erzürnte es ihn, wenn man ihn bei seinen zwanghaften Ritualen – zum Beispiel der wiederholten Abfolge aus: penibles Ausbreiten eines Taschentuchs auf dem Sofa, Aufheben und Winken – störte.

Auch in der Einrichtung für Menschen mit erworbenen Hirnschäden, in der er inzwischen lebt, zeigt ihr Patient ähnliche Auffälligkeiten, berichten Rüdiger Kurz und seine Kollegin Dr. Frauke Ishorst-Witte vom Gesundheitsamt Hamburg-Wandsbek. Verbindung zu den WG-Mitbewohnern hat er keine, auch Blickkontakt zu Menschen nimmt er nach wie vor nicht auf. Seine Zeit verbringt der inzwischen rollstuhlpflichtige 60-Jährige zu weiten Teilen vorm Fernseher, wo er sich his­torische und naturwissenschaftliche Sendungen anschaut.

Immerhin besteht ein Vertrauens­verhältnis zu seiner Bezugsbetreuerin, erklären die Autoren. Außerdem kann er heute in Begleitung U- und S-Bahn fahren. Ob die zu beobachtende Störung des formalen Denkens ebenfalls Folge der ursprünglichen Krankheit ist, lässt sich aus heutiger Perspektive nur schwer beurteilen. Für sie wie auch die Herabsetzung von psychomotorischer Geschwindigkeit und Antrieb könnten auch die Schäden durch die zerebrale Mikroangiopathie verantwortlich sein.

„Die Früherkennung von Störungen im Autismus-Spektrum hat eine große Bedeutung. Denn die frühe Förderung kann das sprachliche und soziale Verhalten der Kinder erheblich verbessern“, schreiben die Autoren. Selbst im Erwachsenenalter lässt sich noch mittels Verhaltenstherapie die Lebensqualität der Betroffenen optimieren. „Die jahrelange Isolierung hat eine günstige Entwicklung in diese Richtung verhindert“, so ihr Fazit über den eigenen Patienten. Umso deutlicher veranschauliche der geschilderte Fall die Bedeutung, die dem sozialpsychiatrischen Dienst zukomme, wenn Menschen krankheitsbedingt das ambulante und stationäre Versorgungsangebot nicht mehr wahrnehmen können.

Quelle: Kurz R, Ishorst-Witte F. Hamburger Ärzteblatt, 2018; 72: 34-35