Anzeige

Autismus-Spektrum-Störungen Trainieren statt therapieren

Autor: Dr. Andrea Wülker

Für die Stereotypien und das repetitive Verhalten gibt es medikamentöse Behandlungsoptionen. Für die Stereotypien und das repetitive Verhalten gibt es medikamentöse Behandlungsoptionen. © iStock/Iryna Spodarenko
Anzeige

Es knirscht beim Zusammenleben mit ihnen, die Kommunikation fällt schwer, hinzu kommt eine ausgesprochene Vorliebe für Routinen: Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung ecken regelmäßig an, scheinen sich aber nicht sonderlich daran zu stören. Ein Teil braucht therapeutische Unterstützung.

Autismus-Spektrum-Störungen liegen tiefgreifende Veränderungen der Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung im Gehirn zugrunde, die sich bereits in früher Kindheit manifestieren. Die komplexe und vielgestaltige Entwicklungsstörung kann die betroffenen Menschen lebenslang beeinträchtigen, schreibt Dr. Klaas Winter von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an den Helios Kliniken Schwerin. Warum und wie es zum Autismus kommt, ist nicht geklärt. Es sind jedoch verschiedene Risikofaktoren beschrieben, etwa bestimmte genetische Mutationen oder Vorerkrankungen sowie ein höheres Lebensalter der Eltern zum Zeitpunkt der Schwangerschaft.

Zu den charakteristischen Merkmalen der Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter zählen unter anderem:

  • gestörte Interaktion, bezogen auf das Initiieren und Aufrechterhalten zwischenmenschlicher Beziehungen in Familie, Beruf, Schule und Bekanntenkreis
  • eingeschränkte Kommunikation mit Blick auf Sprachentwicklung, Gestik und Mimik
  • repetitive Verhaltensweisen, Spezialinteressen und ritualisierte Tagesabläufe, deutliche Abneigung gegenüber Veränderungen in den Lebensumständen

Bei Männern häufiger, bei Frauen oft unerkannt

Die Prävalenz der Autismus-Spektrum-Störungen wird mit 1 % angegeben. Jungen und Männer sind etwa zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Mädchen und Frauen. Studiendaten zufolge scheint die Erkrankung bei Frauen häufiger und länger unerkannt zu bleiben als bei Männern. Oft treten Autismusstörungen und ADHS gemeinsam auf.

Kompensation erfordert oft enorme Anstrengung

Manche Betroffene besitzen dennoch erstaunliche soziale Fertigkeiten und verfügen über Kompensationsmechanismen, die sie sich mühsam antrainiert haben. Je nach Situation müssen sie diese Muster immer wieder abrufen, überprüfen und anpassen, was einer enormen Anstrengung bedarf. In neuen Lebenssituationen, etwa dem Auszug aus dem Elternhaus oder dem Berufsstart, funktionieren diese Mechanismen oft nicht mehr und die bisher maskierten Autismusmerkmale treten überdeutlich zutage.Daher werden Autismus-Spektrum-Störungen bei hochfunktional-autistischen Menschen mitunter erst lange nach der Adoleszenz erkannt.

Die Diagnostik fußt ausschließlich auf der Erhebung und Beurteilung der Lebensgeschichte und auf Verhaltensbeobachtungen, wobei der gesprochenen Sprache, den Reaktionen auf andere Menschen, der Interaktion mit anderen und dem Blickkontakt besondere Bedeutung zukommt. Dr. Winter betont, dass die Diagnostik in spezialisierten Zentren erfolgen sollte. In Deutschland gibt es einige Ambulanzen und Kliniken, an die sich Erwachsene mit Verdacht auf Autismus-Spektrum-Störung wenden können. Allerdings sind die Wartezeiten lang.

Viele Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung kommen mit ihrem Anderssein recht gut klar. Das bedeutet auch, dass nicht jeder von ihnen eine fortlaufende Therapie oder ständig begleitende Maßnahmen benötigt. Zu Problemen führt es immer wieder, wenn bestimmte Autismusmerkmale fehlinterpretiert werden. Stereotype, rigide Verhaltensmuster können wie eine Zwangsstörung erscheinen, Stressreaktionen bei Reizüberflutung imponieren bei autistischen Menschen oft mit Dissoziationen. Selbstverletzungen zur Spannungsregulation können wie Zeichen einer Persönlichkeitsstörung missdeutet werden.

Teilhabemöglichkeiten zu verbessern, ist das Ziel

Wichtigstes Therapieziel in der Betreuung von Menschen mit Autismusstörungen ist die Verbesserung von Lebensqualität und Teilhabemöglichkeiten. Viele Maßnahmen sind eher als Training zu werten, beispielsweise wenn es um die soziale Interaktionsfähigkeit und Kommunikation oder um das Verändern repetitiver Verhaltensmuster geht.

Die Behandlung von Patienten mit Autismus orientiert sich an den Grundsätzen der behavioralen Psychotherapie: Nach der Diagnostik folgen Beratung, Aufklärung und Festlegen von individuellen, vor allem aber realistischen Therapiezielen. Eine Verhaltensanalyse hilft den Betroffenen, problematische Situationen zu erkennen, und ermöglicht ihnen, ihre Andersartigkeit zu akzeptieren. Sie lernen ihre Stärken und Schwächen, ihre Talente und Bedürfnisse kennen.

Die Einschränkung wird zwar fortbestehen, aber die Patienten gewinnen mehr Sicherheit im Umgang mit anderen, erlangen mehr Selbstachtung und verschaffen sich bessere berufliche Möglichkeiten.

Da Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen über soziale Basisfertigkeiten verfügen, eignen sich für sie Gruppentherapien, in denen u.a. folgende Fragen bearbeitet werden:

  • Wie können die verschiedenen sozialen und sensorischen Informationen analysiert, wahrgenommen und interpretiert werden?
  • Wie lässt sich ein Kompromiss zwischen notwendigen Sozialkontakten und gewünschtem Rückzug finden?
  • Wie muss das Umfeld nach den persönlichen Bedürfnissen gestaltet sein, etwa mit Blick auf Arbeitspausen oder Schlaf?
  • Wie kann ein mögliches Outing am Arbeitsplatz erfolgen?

Für die Einschränkungen in der Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit gibt es bislang keine medikamentösen Behandlungsoptionen. Lediglich die Stereotypien und das repetetive Verhalten lassen sich mit ­Risperidon oder ­Aripiprazol an­gehen.

Quelle: Winter K. DNP 2022; 23: 40-46; DOI: 10.1007/s15202-022-4832-9