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„Pseudo-Tourette“ Der Tic aus dem Internet

Autor: Dr. Melanie Söchtig

© Creative Cat Studio – stock.adobe.com
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In den letzten Jahren hat sich ein neuer Typus einer funktionellen Tic-Störung verbreitet. Auslöser scheinen bestimmte Videos in den sozialen Medien zu sein. Klar abzugrenzen ist das neuartige Krankheitsbild vom klassischen Tourette-Syndrom.

Während der COVID-19-Pandemie hat sich eine neue, durch Social Media induzierte Tic-ähnliche Verhaltensstörung ausgebreitet: Die „tic-like behaviors following social media consumption“, kurz TLB-SM. Mittlerweile könne man von einer Art Massenphänomen sprechen, berichten Dr. Daniel Alvarez-Fischer und Prof. Dr. Alexander Münchau vom Institut für Systemische Motorikforschung an der Universität Lübeck. Betroffen sind in erster Linie Menschen im Alter von 12 bis 25 Jahren.

Nach Einschätzung der beiden Autoren haben insbesondere Videos von tatsächlichen oder vermeintlichen Tourette-Patienten, die über YouTube, TikTok und andere Social-Media-Plattformen verbreitet werden, dem Phänomen der TLB-SM Auftrieb verschafft. In Deutschland gilt der YouTube-Kanal „Gewitter im Kopf“ gewissermaßen als virtueller Indexfall. Manche Patienten, die sich in Tourette-Sprechstunden vorstellen, kennen diesen Kanal oder ähnliche Formate gut und zeigen mitunter exakt dieselben Störungsbilder wie die Protagonisten der Videos.

Stärkere Symptome während der Untersuchung

Das neue Störungsbild, mitunter auch als TikTok-Tourette bezeichnet, beginnt meist abrupt und eher im frühen Erwachsenenalter. Die Tics des klassischen Tourette-Syndroms treten dagegen oft schon im Kindesalter erstmals auf, setzen allmählich ein und können über Wochen oder Monate fluktuieren. Ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Störungsbildern besteht auch hinsichtlich der Tic-Muster. Bei der TLB-SM lassen sich im Gegensatz zum typischen Tourette-Syndrom vor allem komplexe Bewegungen beobachten, die vornehmlich Rumpf und Extremitäten betreffen, weniger aber Gesicht, Kopf und Hals. Meist bestehen sie während der klinischen Untersuchungen fort und steigern sich in Gegenwart Anderer. Bei Patienten mit Tourette-Syndrom hingegen schwächen sich die Tics eher ab oder sistieren, wenn sie vom Arzt untersucht werden. Sind die Patienten allein, steigern sich die unwillkürlichen Bewegungen in Stärke und Ausprägung. Darüber hinaus verfügen Patienten mit TLB-SM über ein weitaus breiteres Repertoire an Bewegungen und Lautäußerungen.

Psychopharmaka, die beim Tourette- Syndrom zum Einsatz kommen, sind aufgrund der abweichenden Pathophysiologie bei der TLB-SM und anderen funktionellen Tic-Störungen vermutlich wirkungslos, schreiben Dr. Alvarez-Fischer und Prof. Münchau. Der wichtigste Baustein in der Behandlung der TLB-SM ist das psychoedukative, therapeutisch-validierte Gespräch. Dabei ist es elementar, dem Patienten zu erklären, dass er sich seine Störung keineswegs einbildet, sondern dass es sich bei den Tics um eine Verselbstständigung und um die gestörte Kontrolle von Bewegungen und Verhaltensweisen infolge fehlerhafter Prozesse im Gehirn handelt.

Die zweite Säule bilden verhaltenstherapeutische Interventionen mit dem Führen eines Symptomtagebuchs und der Erarbeitung eines Störungskonzeptes. Erfolgversprechend dürften auch funktionsbasierte Ansätze sein, die auf eine Abschwächung potenziell auslösender Faktoren, insbesondere Social-Media-Konsum, abzielen. Dabei sind komorbide Ängste und affektive Symptome zu berücksichtigen und gegebenenfalls mitzubehandeln. Bei Bedarf sollte an einen Psychiater überwiesen werden.

Quelle: Alvarez-Fischer D, Münchau A. internistische praxis 2023; 66: 651-658