Anzeige

Digitale Diagnostik und Therapie von Gedächtnisstörungen

Autor: Friederike Klein

Kognitives Training gilt als risikoarm und wird von den Patienten gut akzeptiert. (Agenturfoto) Kognitives Training gilt als risikoarm und wird von den Patienten gut akzeptiert. (Agenturfoto) © metamorworks – stock.adobe.com
Anzeige

Zögerlich in Sachen Digitalisierung sind Neurologen sicher nicht. Im Gegenteil, oft gehören sie zu den ersten, die neue technische Möglichkeiten für ihre Praxis nutzen. Dies unterstreicht einmal mehr die aktuelle Leitlinie zu Gedächtnisstörungen bei neurologischen Erkrankungen.

Technikaffine Kollegen dürfen sich auf ihren nächsten neurologisch erkrankten Patienten mit Gedächtnisstörung bzw. Amnesie freuen. Die entsprechende S2e-Leitlinie für Erwachsene wurde nämlich um einige vielversprechende digitale Ansätze in Diagnostik und Therapie ergänzt.

Wie die Autoren um Dr. Angelika­ Thöne-Otto­, Leiterin der Arbeitsgruppe Klinische Neuropsychologie am Universitätsklinikum Leipzig, betonen, gelten ihre Empfehlungen nicht für Patienten mit psychia­trischen Erkrankungen wie einer Schizophrenie, mit Demenzen sowie mit einer transienten globalen Amnesie.

Diagnostik

Die Basis bildet weiterhin eine zuverlässige Diagnostik mit validen und standardisierten psychome­trischen Verfahren. Sie ist indiziert, wenn die Patienten selbst über relevante Gedächtnisprobleme berichten oder deren Angehörigen diesbezüglich etwas aufgefallen ist. Dies gilt auch dann, wenn sich zunächst keine neurologische Erkrankung erkennen lässt.

Psychometrische Tests bei Multipler Sklerose

Aufgrund des progredienten Verlaufs der Multiplen Sklerose (MS) sollten nur wiederholbare neuropsychologische Testverfahren zur Diagnostik von Gedächtnisstörungen zum Einsatz kommen. Die Autoren empfehlen zwei Batterien mit z.T. überschneidenden Verfahren:
  • Brief Repeatable Battery of Neuropsychological Tests sowie das
  • Minimal Assessment of Cognitive Function in MS

Nie die Gedächtnisfunktion isoliert betrachten

Demenz-Screenings wie der Mini-Mental-Status-Test oder der DemTec decken leichte bis mittelschwere Gedächtnisstörungen nur unzureichend auf und sind daher nicht geeignet, schreiben die Experten. Auch den MoCA können sie nur eingeschränkt empfehlen. Er fällt zwar valider und sensitiver aus als die beiden o.g. Testverfahren, diskrete Kognitionsdefizite unterschätzt er aber ebenfalls. Das Gedächtnis ist niemals isoliert zu betrachten, sondern stets im Kontext anderer kognitiver Funktionen, der psychischen Befindlichkeit und des Verhaltens, heißt es in der Leitlinie. Entsprechend sollte die neuropsychologische Testung folgende Teilfunktionen berücksichtigen:
  • Orientierung (örtlich-geografisch, zeitlich-kalendarisch, situativ, zur eigenen Person)
  • Kurzzeit-Arbeitsgedächtnis (verbale und figurale Merkspannen, Lernen und verzögerter Abruf von z.B. Wortlisten)
  • Langzeitgedächtnis (unmittelbare und um bis zu 30 min verzögerte Wiedergabe komplexer verbaler/figuraler Informationen)
  • Altgedächtnis (Wiedergabe autobiografischer sowie öffentlicher Informationen aus versch. Lebensabschnitten, subjektiv relevantes Fachwissen)

In der Virtual Reality agieren und interagieren

Bei wiederholten Untersuchungen muss darauf geachtet werden, ob sich Testverfahren erneut einsetzen lassen. Wiederholungseffekte können nämlich die Interpretierbarkeit der Ergebnisse beeinflussen, warnen die Leitlinienautoren. Ergänzend sollten Informationen über Art und Ausmaß der Hirnschädigung (Anamnese, Bildgebung), potenzielle Defizite in Sprache, Wahrnehmung etc., subjektive Wünsche und Störungswahrnehmung des Betroffenen, Veränderungen in Affekt und Verhalten sowie weitere mögliche Funktionseinschränkungen evaluiert werden. Die Tools werden von den Patienten entweder klassisch mit Stift und Papier oder am Computer bearbeitet. Eine dritte Möglichkeit eröffnet sich nach und nach mit der Virtual Reality (VR). Mithilfe entsprechender Brillen oder speziellen Bildschirmen wird den Patienten dabei eine dreidimensionale Welt präsentiert, in der sie agieren und interagieren können. Einen großen Vorteil sehen die Experten vor allem darin, dass sich mit VR auch bisher schwer zu testende kognitive Funktionen erfassen lassen, etwa die visuell-räumliche Navigation. Laut einer Metaanalyse mit 14 Studien zum Thema korre­liert das neue Verfahren gut mit computergestützten Messmethoden.

Therapie

Je nach Schwere der Gedächtnisstörung kommen verschiedene Therapieansätze infrage.
Therapieempfehlungen nach Art und Schwere der Gedächtnisstörung
leichte bis mittelgradige Gedächtnisstörung
schwere Gedächtnisstörung / schwere Amnesie
spezifisches funktions- oder strategieorientiertes TrainingKompensationsstrategien
  • z.B. bildhafte Vorstellung
  • mind. zehn Sitzungen (klin. Praxis)
  • Fokus bei schwerer Gedächtnisstörung, wenn Patient interessiert
  • Ziel: Aktivitäten und Teilhabe verbessern
  • z.B. Smartphone-Kalender
elektronische Erinnerungshilfendomänenspezifisches Wissen und Alltagroutinen
  • als Kompensationsstrategie einbeziehen
  • falls Patient interessiert
  • z.B. Kalender-App im Smartphone
  • bei schwerer Amnesie
  • fehlerarmes Lernen ermöglichen
  • aktiven Abruf anregen (mit kurzem Abrufintervall starten und steigern, sog. Spaced Retrieval)
Als schwer amnestisch gilt, wer nach einem Intervall keine oder nur wenige Inhalte wiedergeben kann. Bei der Therapiewahl berücksichtigt werden muss auch, ob bzw. welche anderen kognitive Funktionen beeinträchtigt sind und ob Krankheitseinsicht besteht. Persönliche Ziele des Patienten und die Anforderungen in seinem Alltag inklusive einer Berufstätigkeit spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Bei leichten bis mittelgradigen Gedächtnisstörungen sprechen sich die Leitlinienautoren für ein kognitives Training aus. Ein Mindestmaß an längerfristiger Behaltensleistung vorausgesetzt, scheinen vor allem Personen mit besseren Aufmerksamkeits- und Arbeitsgedächtnisleistungen vom Training zu profitieren. Zudem hängt die Wirksamkeit an der Dosis, was 10–15 Sitzungen für signifikante Leistungsverbesserungen voraussetzt. Allerdings ist die Studienlage eher mäßig einzuordnen. Dieser setzten die Autoren jedoch den praktischen Nutzen entgegen: Das Training wird von den Patienten in der Regel gut akzeptiert und Risiken bestünden kaum.

Routinen aufbauen für Aktivitäten und Teilhabe

Bei Personen mit schwerer globaler Amnesie raten die Experten von einem funktionsorientierten Training ab. Wirksamkeitsnachweise bestünden dafür nicht. Diese Patienten sollten stattdessen Kompensationsstrategien erlernen, Techniken, die auf dem impliziten Gedächtnis beruhen. Für sie wurde beispielsweise das „Errorless Learning“ (fehlerarmes Lernen) entwickelt. Ziel ist, beim Abruf so gut wie möglich Fehler zu verhindern, wobei zunächst sehr kurze Abrufintervalle gewählt werden. Darauf aufbauend verlängert man die Zeitspanne zwischen Lernen und Abruf immer weiter (sog. Spaced Retrievel). Diese Methode lässt sich auch bei Menschen mit schweren Gedächtnisstörungen einsetzen. In der Arbeit mit ihnen kommt es primär nicht darauf an, die Gedächtnisleistung als „Körperfunktion“ zu verbessern, sondern für sie selbst relevante Informationen zu vermitteln bzw. Routinen aufzubauen, die ihnen wieder Aktivitäten und Teilhabe ermöglichen. Zur Einordnung sollte auch im Zusammenhang mit Errorless Learning und Spaced Retrieval darauf hingewiesen werden, dass Studienergebnisse widersprüchlich sind. In den letzten Jahren stieg der Anteil der Nutzung mobiler Endgeräte in einigen Studien auf über 80 %. Die meisten Smartphones besitzen vorinstallierte Kalender, die dafür verwendet werden können. Mittlerweile gibt es aber auch zahlreiche Apps, die mit Alarmen als Erinnerungsstützen arbeiten, um beispielsweise an die Medikamenteneinnahme oder ans Trinken zu erinnern. Auf der anderen Seite sind neue, tragbare Kamerasysteme „im Kommen“, die in jüngster Zeit ausführlich untersucht wurden.

Fischauge hilft beim Erinnern

Neben elektronischen Erinnerungssystemen könnten zunehmend technische Lösungen wie die „SenseCam“ in der neurologischen Rehabilitation an Bedeutung gewinnen. Das tragbare Kamerasystem nimmt in regelmäßigen Zeitabständen automatisch Fotos aus Perspektive des Patienten auf (Fischaugenobjektiv). Der Unterschied zu herkömmlichen am Kopf getragenen Kameras: Eine Software nutzt Künstliche Intelligenz und spezielle Algorithmen, um die Fotos inhaltlich bzw. nach Ähnlichkeiten vorzusortieren. Damit dies als Gedächtnisstütze wirken kann, müssen die Bilder regelmäßig durchgesehen und ausgewertet werden. Dazu braucht der Patient in der Regel die Unterstützung eines Angehörigen oder Therapeuten.

Mit deren Hilfe sollen autobiografische episodische Erinnerungen an wichtige Erlebnisse verbessert werden. Egal, welches System verwendet wird: Um die Patienten ausreichend zu motivieren, kommt es natürlich darauf an, dass die zu erinnernde Tätigkeit persönlich relevant ist. Kleinen „Startschwierigkeiten“ im Umgang mit den Gadgets lassen sich begegnen, indem die Hilfsmittel zuvor besprochen und geübt werden. Und spätestens seit der DGSVO ist bekannt: Aufklärung über Datenschutz und -sicherheit nicht vergessen.

Quelle: S2e-Leitlinie Diagnostik und Therapie von Gedächtnisstörungen bei neurologischen Erkrankungen, AWMF-Registernummer 030/124; www.awmf.org