Anzeige

Somatische Belastungsstörungen Fokus auf das Leiden

DGPPN 2023 Autor: Friederike Klein

Wichtig sei es, nicht gegen das subjektive Krankheitsmodell der Patienten anzureden. Wichtig sei es, nicht gegen das subjektive Krankheitsmodell der Patienten anzureden. © Wasan - stock.adobe.com
Anzeige

Mit dem ICD-11 und noch mehr dem DSM-5 ändert sich das Konzept für somatoforme Störungen. Entscheidend ist nicht so sehr, dass die körperlichen Beschwerden keine erklärbare Pathologie haben, sondern dass sie für die Patienten belastend sind.

Wenn Patienten mit einer Vielzahl von Symptomen kommen, für die verschiedene Ärzte noch keine Ursache fanden, liegt der Verdacht einer somatoformen Störung nahe. Dann ist es in den meisten Fällen nicht nötig, eine erneute Diagnostik einzuleiten, erklärte Prof. Dr. ­Winfried ­Rief von der Universität Marburg. Stattdessen empfahl er eine andere Strategie: immer weiter nach Symptomen zu fragen und alles zu explorieren, bis eine Art Sättigung erreicht ist. Danach kann das Gespräch dann auf die Belastung durch die Beschwerden gelenkt werden. Aus diesem Vorgehen ergäben sich meist schon Ansatzpunkte für eine Therapie, so Prof. Rief. Wichtig sei es, nicht gegen das subjektive Krankheitsmodell der Patienten anzureden. Stattdessen sollte man das Krankheitsmodell schrittweise erweitern, bis wieder neue Handlungsmöglichkeiten entstehen.

Nach dem DSM-5 zählen alle belastenden somatischen Beschwerden – nicht nur die unerklärbaren – als eine somatische Belastungsstörung, wenn sie mit mindestens einem der drei folgenden Kriterien einhergehen:

  • unangemessene und andauernde Gedanken bezüglich des Ernstes der Beschwerden
  • stark ausgeprägte Ängste in Bezug auf Gesundheit und Symptome
  • den Beschwerden oder Gesundheitssorgen wird ein exzessiver Aufwand an Zeit und Energie gewidmet

Als Mindestdauer der Störungen werden sechs Monate gefordert. Das ist in der ICD-11 allerdings anders: Hier reichen für die „Bodily Distress Disorder (die endgültige deutsche Übersetzung steht noch aus) schon drei Monate mit belastenden körperlichen Beschwerden aus, wenn diesen eine exzessive Aufmerksamkeit geschenkt wird, die an den meisten Tagen oder über mehrere Monate persistiert und psychosoziale Beeinträchtigungen hervorruft. Eine eigene Diagnosekategorie für somato­forme Störungen ist laut Prof. Rief sinnvoll. Nicht zwangsläufig muss eine Komorbidität mit Depression und Angststörungen bestehen, auch wenn sie häufig ist. Die ICD-11 hat im Kapitel der Zwangsspektrumsstörungen außerdem die „Hypochondrie“ wiederbelebt. Chronische Schmerzsyndrome erhalten ein eigenes Kapitel und wurden aus dem psychiatrischen Katalog herausgenommen. „Damit ist diese Kategorie auch für andere medizinische Disziplinen offen“, betonte er.

Das subjektive Krankheitsmodell ist bei somatoformen Störungen wichtig, weil es das Verhalten der Patienten und ihren Umgang mit Erkrankungen bestimmt. Auch resultieren daraus meist die überzogenen Erwartungen an die Behandelnden und die Compliance mit Therapiemaßnahmen. So ist die Psychotherapie bei somatoformen Störungen nachweislich sehr wirksam, wird aber häufig abgelehnt, weil die körperlichen Beschwerden im Vordergrund stehen.

Prof. Rief empfahl, Zweifel in Bezug auf eine Psychotherapie zunächst zu validieren und die bisherige Strategie im Umgang mit den Beschwerden zusammenzufassen. Manchmal müsse man auch zwei oder drei Termine anbieten, bis sich ein Anhaltspunkt ergibt, um die Motivation zur Psychotherapie zu erhöhen. So könne man beispielsweise mit den Betroffenen besprechen, wie viel Zeit sie bislang damit verbracht haben, eine körperliche oder eine andere Ursache der Beschwerden zu suchen. Die Psychotherapie wäre da doch einen – gegebenenfalls zeitlich erst einmal limitierten – Versuch wert.

„Es geht um Bewältigung statt Heilung“, ergänzte Prof. Dr. ­Peter ­Henningsen vom Klinikum rechts der Isar der TU München. Idealerweise wollten die Betroffenen schon in der Primärversorgung erkannt werden. Bei der Befragung und Untersuchung gelte es dann auf auffälliges Verhalten zu achten. Wichtig ist es, die Patienten zu beruhigen, riet Prof. Henningsen. Nebenbei geäußerte Bemerkungen über mögliche Differenzialdiagnosen sollten unterbleiben, denn das kann gerade bei diesen Patienten rasch Ängste und negative Erwartungen auslösen. Der Belastung entsprechend sollten die Betroffenen beraten werden, statt ihnen nur lapidar zu sagen „Sie haben nichts“.

Erste psychotherapeutische Schritte sind dabei schon in der Primärversorgung möglich und wirksam, wie eine randomisiert-kontrollierte norwegische Studie aus dem Jahr 2023 zeigt. Allgemeinärzte wurden darin trainiert, in der Kommunikation mit den Patienten ein Tool zu nutzen, das Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie, Psychoedukation und des sokratischen Dialogs enhält. Zusammen mit Hausaufgaben und von den Patienten zu erarbeitenden Aktivitätsplänen hatte die Intervention eine große Effektstärke. Der Gesamtzustand der Patienten mit unklaren körperlichen Symptomen verbesserte sich deutlich; die Beschwerdelast halbierte sich innerhalb von elf Wochen.

Quelle: *    Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.