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Onkologische Bewegungswissenschaft „Ich will noch mehr aussagekräftige qualitativ hochwertige Studien“

Interview Autor: Maria Fett/Prof. Dr. Freerk Baumann

Das individuelle bewegungstherapeutische Programm kann z.B. Ausdauer, Kraft, Vibrationstraining oder Koordination umfassen. Das individuelle bewegungstherapeutische Programm kann z.B. Ausdauer, Kraft, Vibrationstraining oder Koordination umfassen. © iStock/sergio_kumer
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Lassen sich klinisch relevante Nebenwirkungen einer Krebstherapie und die Auswirkungen der Erkrankung durch gezielte körperliche Bewegung reduzieren oder gar verhindern? Um diese Frage kreisen Forschung und Lehre von Professor Dr. Freerk Baumann. Vor Kurzem trat der Sportwissenschaftler die erste Stiftungsprofessur für Onkologische Bewegungswissenschaft der Uniklinik Köln an. Im Interview spricht er unter anderem über das maßgeblich von ihm entwickelte Bewegungskonzept für Krebspatienten: die „Onkologische Trainings- und Bewegungstherapie“.

Was versprechen Sie sich von Ihrem Wechsel ans Centrum für Integrierte Onkologie (CIO)?

Professor Dr. Freerk Baumann: Meine Erwartungen beziehen sich auf drei Bereiche. Zum einen das Thema Wissenschaft: Wir wissen, dass Bewegung ein Nebenwirkungsmanager in der Onkologie ist. Trotz zahlreich vorhandener Studien, gibt es viele, relevante klinische Forschungsfragen zu beispielsweise Kachexie, sexueller Dyfunktion, beruflicher Reintegration. Deshalb bin ich daran interessiert, aussagekräftige, qualitativ hochwertige kontrollierte Studien zu dem Thema durchzuführen. Das geht natürlich nur interdisziplinär, weshalb die Arbeit am CIO ideal ist. Besonders die Grundlagenforschung ist hier sehr gut vernetzt. Und natürlich profitieren wir von der engen Zusammenarbeit mit der Deutschen Sporthochschule Köln.

Auf der anderen Seite gibt es die Lehre. Mit Blick auf die interdisziplinäre Ausrichtung meiner Arbeit kann ich sagen, dass der Schritt ans Uniklinikum richtig war. Ich glaube, es ist wichtig, das Wissen nicht nur an Sportwissenschaftler weiterzugeben, sondern auch an zukünftige Mediziner und Psychoonkologen, die es später in ihre klinischen und wissenschaftlichen Ansätze übertragen. Das betrifft dann auch den dritten Bereich, die Versorgung. Wir haben damit begonnen, am CIO eine Struktur mit speziellen Settings für Krebspatienten aufzubauen. Daraus soll nun ein eigenständiges Versorgungsmodell entstehen, das von den Kostenträgern abrechenbar ist.

Wie kamen Sie zur onkologischen Bewegungstherapie?

Prof. Baumann: Seit meiner Kindheit habe ich Respekt und großes Interesse an dem Thema Krebs. Im Biologieunterricht z.B. war ich immer besonders aufmerksam, wenn es um Genetik und Pathophysiologie ging. Fast genauso lang zurück reicht meine Leidenschaft für Sport, da ich aus einer sehr sportlichen Familie komme. Mir war somit recht schnell klar, dass ich Menschen mit Bewegung heilen möchte.

Nach meiner Aufnahme an der Deutschen Sporthochschule Köln hatte ich dann das große Glück, Professor Dr. Klaus­ Schüle­ zu begegnen, der vor 40 Jahren die ersten Krebssportgruppen gegründet hat.

Ohne ihn würde es die Stiftungsprofessur sicher nicht geben. Er war es auch, der Anfang der 2000er-Jahre Kontakt zu Professor Dr. Michael­ Hallek­ aufnahm, heute Direktor des CIO. Er integrierte das Thema schließlich ins onkologisch-klinische Setting. Beide haben die onkologische Bewegungstherapie also maßgeblich vorangetrieben. Ab diesem Zeitpunkt war für mich klar: Das ist mein Gebiet.

Körperliche Aktivität kann den Verlauf einer Krebserkrankung und damit die Prognose der Patienten beeinflussen. Welche Effekte darf man sich von gezielten Bewegungsinterventionen erhoffen?

Prof. Baumann: Aus Beobachtungsstudien wissen wir, dass z.B. Brustkrebspatientinnen durch körperliches Training nach der Dia­gnose die Rezidivhäufigkeit und Mortalität signifikant reduzieren konnten. Gleiches bestätigte sich für Darm- und Prostatakrebs. Diese Daten möchten wir mit kontrollierten Studien unterstreichen.

Darüber hinaus gelang es unserer Kooperationspartnerin Professor Dr. Franziska­ Jundt­ aus Würzburg und ihrem Team im Tiermodell darzustellen, dass eine Bewegungsintervention bei Mäusen mit Multiplem Myelom den Progress des Tumors blockt. Ähnliches zeigte sich bei MGUS*-Patienten: Durch ein Vibrationstraining veränderte sich die Dynamik bestimmter Biomarker der Erkrankung. Zudem stieg die Knochengesundheit. Die Frage, die sich hieran anschließt, lautet jetzt: Wie können wir mittels Bewegung, die den Knochen gezielt belastet, dessen Strukturen dazu bringen, den Krankheitsprogress zu hemmen.

In einem weiteren aktuell laufenden Projekt untersuchen wir im CIO Köln mit Prof. Dr. ­Christian ­Pallasch inwiefern wir durch Training die Ansprechrate der Immuntherapie erhöhen können. Zudem möchten wir die damit verbundenen Mechanismen auf Immunebene verstehen lernen, und bauen dazu derzeit einen eigenen Arbeitsbereich auf.

Ein Meilenstein Ihrer Arbeit war die Entwicklung der OTT, der „Onkologischen Trainings- und Bewegungstherapie“. Können Sie das Konzept kurz erklären?

Prof. Baumann: Mir war schon früh klar, dass wir eine spezielle Versorgungsstruktur für Krebspatienten brauchen. 2010 habe ich diese Idee in meine Arbeitsgruppe getragen und gesagt: Lasst uns dazu ein Konzept entwickeln! Das Ergebnis haben wir 2012 in die „Praxis“ der Uniklinik Köln integriert. Bei der OTT handelt es sich um eine personalisierte Therapie für Krebspatienten vor dem Hintergrund individueller Module. Praktisch sieht das so aus, dass wir mit den Betroffenen in einen Dia­log gehen, in dem wir gemeinsam die Erkrankung, Therapien und deren Nebenwirkungen besprechen. Diese überführen wir dann in ein Risiko- und Chancenprofil. Nach einer Anamnese steht die Frage: An welchem Ziel wollen wir arbeiten, dem wir ein maßgeschneidertes Bewegungstherapieprogramm zuordnen.

Das kann eine ausgeprägte Fatigue sein oder Polyneuropathien, Depression oder Nebenwirkungen von Hormontherapien. Aus jedem Ziel ergibt sich ein Modul mit einem eigenen bewegungstherapeutischen Programm aus z.B. Ausdauer, Kraft, Vibrationstraining oder Koordination.

Der „Vater der Krebssportgruppen“ wird 80

Professor Dr. Klaus Schüle studierte an den Universitäten Tübingen und Köln die Fächer Soziologie, Politik, Volkswirtschaftslehre und Sport. Nach dem Abschluss als Diplom-Sportlehrer und der ersten philologischen Staatsprüfung im Fach Sozialwissenschaften, promovierte er 1976 an der Deutschen Sporthochschule und Universität Köln zum Doktor der Sportwissenschaften. 1985 folgte die Habilitation. 1991 übernahm er die Professur für „Rehabilitation, Sporttherapie und Behindertensport“ an der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS-Köln). 1993–1997 und 2001–2007 führte er als Geschäftsführender Leiter das „Institut für Rehabilitation und Behindertensport“ der DSHS-Köln. Parallel dazu gehörte er von 2000–2012 zur wissenschaftlichen Leitung des von ihm mit gegründeten „Institut für Qualitätssicherung in Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule Köln“ (IQPR). Außerdem ist er Ehrenvorsitzender des Deutschen Verbandes für Gesundheitssport und Sporttherapie (DVGS). Die wissenschaftlichen Schwerpunkte von Prof. Schüle liegen im Bereich Rehabilitation, Behindertensport und Sporttherapie insbesondere vor dem Hintergrund der Rolle von Bewegung und Sport in der Onkologie. Prof. Schüle war weltweit einer der ersten, der immer wieder (auch gegen viele Widerstände) auf die wichtige Bedeutung von Bewegung für Krebserkrankte aufmerksam machte. So entwickelte er bereits 1978 erste Ideen zu wissenschaftlichen Projekten im „Sport in der Krebsnachsorge“. 1980 erfolgte die Umsetzung der ersten Studie, aus der schließlich 1981 die wahrscheinlich weltweit erste offizielle Krebssportgruppe entstand. Mit dem Titel „The rank value of sports and movement therapy in patients with breast or pelvic cancer” ist diese von 1983 auf Pubmed als eine der ersten Publikationen zu diesem Thema auffindbar. Im Jahr 2000 initiierte er gemeinsam mit seinem damaligen Studenten Freerk Baumann die erste Studie zum Ausdauertraining während des stationären Aufenthaltes unter einer Knochenmarktransplantation. 2007 emeritierte Klaus Schüle, und bleibt bis heute dem Thema treu. Inzwischen existieren über 1.800 Krebssportgruppen in Deutschland, und die Bewegungstherapie erfreut sich einer hohen Akzeptanz in sämtlichen Versorgungssektoren der Onkologie. Diese Situation hätten wir in Deutschland nicht ohne Prof. Klaus Schüles unermüdlichen Einsatz sowie seiner unerschütterlichen Überzeugung der hohen gesundheitlichen Wirksamkeit von Bewegung. Prof. Schüle ist Autor und Mitautor bei mehr als 200 wissenschaftlichen Publikationen und zehn Büchern. In den 1970er- und 1980er-Jahren hat er bei sechs Lehrfilmen die Kamera selbst geführt. Bei seinen drei von „Profis“ erstellten Filmen war er für die Konzeption verantwortlich und ist besonders stolz auf den Film „Sport in der Rehabilitation – ein Beitrag zur physischen und psychischen Integration Behinderter“ der beim 27. Internationalen Film- und Fernsehfestival 1984 in New York mit der Goldmedaille und 1989 dem Filmband in Gold beim Filmwettbewerb anlässlich des 7. Internationalen Symposiums Adapted Physical Activity in Berlin ausgezeichnet wurde.

Prof. Dr. Freerk Baumann

Die Effekte der Bewegungstherapie wurden in vielen Studien nachgewiesen und finden sich sogar in S3-Leitlinien. Trotzdem werden die Kosten bisher nicht übernommen.

Prof. Baumann: Das empfinde ich offen gesagt als Skandal! Es ist mir absolut unverständlich, weil wir im Grunde alles haben, um eine Anerkennung bei den Kostenträgern zu erhalten. Mit 800 randomisierten kontrollierten Studien besteht eine gute Evidenz für die Bewegungstherapie – die höchste unter allen Supportivtherapien in der Onkologie. Es gibt sogar Versorgungsmodelle, die zeigen, wie eine Implementierung in der Praxis funktioniert. In einer eigenen Akademie haben wir bereits 400 OTT-Therapeuten qualifiziert, die teilweise aus anderen europäischen Ländern zu uns kommen.

Und es ist eine eigene S3-Leitlinie „Bewegungstherapie in der Onkologie“ geplant, die Sie koordinieren.

Prof. Baumann: Genau, auch dafür haben wir die Bewilligung. Ich bin sehr zuversichtlich, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Onkologische Bewegungstherapie in die Regelversorgung aufgenommen wird.

* Monoklonale Gammopathie unbestimmter Signifikanz

Interview: Maria Fett

Prof. Dr. Sportwiss. Freerk Baumann; Leiter AG Onkologische Bewegungsmedizin, Centrum für Integrierte Onkologie, Uniklinik Köln Prof. Dr. Sportwiss. Freerk Baumann; Leiter AG Onkologische Bewegungsmedizin, Centrum für Integrierte Onkologie, Uniklinik Köln © zVg