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Sportunterricht Kinder in der Sprechstunde auch nach psychosozialen Verletzungen im Rahmen des Schulsports fragen

Autor: Michael Brendler

Nicht für alle Kinder ist der Sportunterricht ein Grund zur Freude. Viele leiden unter dem Schulsport und tragen langfristige psychische Verletzungen davon. Nicht für alle Kinder ist der Sportunterricht ein Grund zur Freude. Viele leiden unter dem Schulsport und tragen langfristige psychische Verletzungen davon. © Drazen – stock.adobe.com
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Dem Sportunterricht wird ein hohes gesundheitsförderndes Potenzial zugesprochen – von dem aber nicht alle profitieren. Das bezieht sich nicht nur auf körperliche Verletzungen, zu denen es im Rahmen des Unterrichts kommen kann, sondern auch auf langfristige psychische Konsequenzen.

„Die Dickeren, sag ich mal so, die leiden echt im Sportunterricht [...]. Wenn die gedisst werden, […] die wehren sich ja nicht, weil sie denken, dass sie dazu kein Recht haben, oder weil sie noch nicht weiter auffallen wollen“, so schilderte ein interviewter Schüler die Situation in seiner Schule. Im Rahmen ihres Projekts „Psychosoziale Gesundheit im Sportunterricht“ am Institut für Sportwissenschaften der Universität Göttingen hat Prof. Dr. Ina Hunger gelernt: Obwohl der Sport als Lieblingsfach vieler Schüler gilt, bedeutet der Unterricht für einen kleinen Teil der Kinder eine wöchentliche Tortur, die unter anderem mit Scham, Angst und Hilflosigkeit einhergeht und auch zu gesundheitlichen Einschränkungen führt.

Die Fokussierung auf die körperliche Leistung bringt es mit sich, dass es im Gegensatz zu allen anderen Schulfächern der Körper ist, der präsentiert, berührt und verglichen wird. Die Schüler kommentierten in diesem Rahmen oft untereinander „gnadenlos“ ihr Aussehen, so Prof. Hunger. Schüler und Schülerinnen mit z.B. Übergewicht, Fehlstellungen oder körperlich-motorischem Förderbedarf gerieten so vielfach ungewollt in den Mittelpunkt. Auch gut gemeinte didaktische Maßnahmen führen mitunter zu Bloßstellungen und Demütigungen. Das fange bereits bei der Mannschaftswahl durch einzelne Schüler an: „Gegen Ende wirst du widerwillig aufgenommen oder gleich den anderen geschenkt“, erinnert sich ein Interviewter.

Den Betroffenen ist es angesichts der breiten Beliebtheit des Fachs und der als üblich angesehenen Gepflogenheiten kaum möglich, die unangenehmen Situationen zu umgehen. In der Folge suchen sie oft die Ursache bei sich selbst: Sie attestieren sich z.B. den falschen Körper oder reden sich ein, sie reagieren zu empfindlich. In der Konsequenz leiden die Kinder in der Regel still und gewöhnen sich ein möglichst unauffälliges Verhalten an.

Panik und Verunsicherung können zu Unfällen führen

Die ausgelösten psychosozialen Belastungen sind gravierend, lautet das Fazit von Prof. Hunger. Es kommt zu Unfällen – verursacht durch Panik und Verunsicherung – oder zu Auffälligkeiten im psychischen bzw. psychosomatischen Bereich. Das kann langfristig Folgen haben: Die Kinder lehnen z.B. Sport im Allgemeinen ab oder entwickeln ein negatives Körperselbstbild. Der Unterricht erreicht damit gewissermaßen genau das Gegenteil seiner Ziele, kritisiert die Expertin.

Diesbezüglich sollten ihrer Meinung nach auch Kinderärzte aktiver werden. Statt beispielsweise zu mehr Sport zu raten, sollten sie aufmerksam sein und sich erkundigen, wie der Schulsport erlebt wird. Das hat zwar nicht zwingend zur Folge, dass sich das Kind öffnet, es macht das Ganze aber weniger zu einem Tabuthema. Die Betroffenen können dadurch lernen, dass nicht sie das Problem sind, allein dieser Perspektivenwechsel hilft manchmal schon, findet Prof. Hunger. 

Quelle: Hunger I. Kinderärztliche Praxis 2023; 94: 204-207