Tägliche Tränen ohne Trauer Meningeom löste bei einem Patienten Weinanfälle aus

Autor: Dr. Vera Seifert

Ungefähr 15-mal am Tag passierte es, dass ein Patient grundlos weinen musste. Ungefähr 15-mal am Tag passierte es, dass ein Patient grundlos weinen musste. © Tracy King - stock.adobe.com

Ungefähr 15-mal am Tag passierte es, dass ein Patient grundlos weinen musste. Diese Anfälle ordnete er als Alterserscheinung ein. In der MRT fand sich jedoch ein anderer Auslöser.

Ein zunehmend gestörter Gang und ein Gefühl der linksseitigen Schwäche führten einen 52-jährigen Mann ins Universitätsklinikum Münster, schreiben Dr. Zeynep Özdemir von der dortigen Neurochirurgie und ihr Team. Bei der Untersuchung berichtete der Patient über Doppelbilder bei Adduktion des rechten Auges. Zudem fiel ein breitbasiges, unsicheres Gangbild auf. Ein Tandemgang (Gehen auf einer gedachten Linie) war nicht möglich. Im Gegensatz zu dem Schwächegefühl des Mannes entpuppten sich Kraft, Muskeltonus und Reflexe bilateral als unauffällig.

Während des Gesprächs mit dem Patienten ereigneten sich fünf Episoden, bei denen er plötzlich unkontrolliert weinte, beginnend mit einem traurigen Gesichtsausdruck, Schluchzen und schliesslich Tränenfluss. Jedes dieser anfallsartigen Phänomene dauerte 60 bis 90 Sekunden. Der Mann war dabei bei Bewusstsein und konnte sich vollständig daran erinnern. Eine entsprechende emotionale Betroffenheit verspürte er nicht. Er gab an, dass bereits seit sechs Jahren etwa 15-mal täglich derartige Weinanfälle auftraten. Offenbar hielt er diese Entwicklung für nicht besonders erwähnenswert, sondern schrieb sie seinem fortschreitenden Alter zu.

Ärzte tippten auf eine Kleinhirnschädigung

Wie lassen sich die Untersuchungsbefunde erklären? Die Doppelbilder könnten Ausdruck einer Schwäche des Nervus oculomotorius sein. Dabei würde man aber noch mit anderen Bewegungsstörungen des Auges und mit einer gestörten Pupillomotorik rechnen. Eine Störung auf Rückenmarksebene hielten die Ärztinnen und Ärzte ebenfalls für unwahrscheinlich, weil keine Hemiparese vorlag. Die beobachtete Ataxie könnte auch Folge eines Mittelhirnschadens (Benediktsyndrom) sein. Aber dazu war die Ausprägung der Symptome zu mild. Das Ärzteteam tippte daher auf eine Schädigung des Kleinhirns.

Tatsächlich zeigte sich in der MRT ein grosser Tumor im Bereich des Kleinhirnbrückenwinkels, der auf den Hirnstamm drückte. Ausserdem führte der Masseneffekt zu einer Einengung des Aquaeductus mesencephali – der Verbindung zwischen 3. und 4. Hirnventrikel – und dadurch zu einem Hydrozephalus. Im EEG, das während eines Weinanfalls aufgezeichnet wurde, zeigten sich rhythmische Verlangsamungen in der rechten frontozentralen Region, was typisch für ein Anfallsmuster ist. Als Auslöser der Weinanfälle vermuteten die Neurologinnen und Neurologen den durch den Tumor erzeugten direkten Druck auf den Hypothalamus sowie den indirekten Druck durch den Hydrozephalus.

Auf eine antikonvulsive Medikation wurde verzichtet, weil sich Anfälle dieser Art dadurch meist nicht in den Griff bekommen lassen. Stattdessen entschloss sich das Autorenteam zur Operation. Der Tumor entpuppte sich als Meningeom. Drei Monate nach dessen Entfernung waren Gangstörungen und Weinanfälle komplett verschwunden. Eigentlich war noch ein zweiter Eingriff geplant, um verbliebene Tumorreste zu entfernen. Da sich der Patient aber bereits deutlich besser fühlte, wollte er darauf verzichten. Zwei Jahre nach der OP zeigten sich kein erneutes Tumorwachstum und keine neuen Weinanfälle.

Quelle: Özdemir Z et al. Neurology 2025; 105: e213847; doi: 10.1212/WNL.0000000000213847