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Chronische Schmerzen Multimodale Diagnostik und Therapie nötig

Autor: Dr. Melanie Söchtig

Chronische Schmerzen gehen häufig mit starken psychischen Belastungen einher. Chronische Schmerzen gehen häufig mit starken psychischen Belastungen einher. © peterschreiber.media- stock.adobe.com
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Bei chronischen Schmerzkrankungen spielen individuelle psychosoziale Faktoren eine erhebliche Rolle. So leiden die Betroffenen z.B. auch darunter, ihren Schmerzen
scheinbar hilflos ausgeliefert zu sein. Das gilt es in Diagnostik und Therapie von Anfang an zu berücksichtigen.

Zentralnervöse Prozesse und dysfunktionale Faktoren lassen ein akutes Schmerzempfinden zum Dauerzustand werden. Im ICD*-System wird chronischer Schmerz inzwischen als eigenständiges Krankeitsbild geführt, berichtet eine Autorengruppe um Dr. Victoria Lucas von der Universitätsklinik Heidelberg.

Noziplastischer Schmerz hält Einzug in ICD-Katalog

Chronische Schmerzen unterteilte man bisher in nozizeptive und in neuropathische. Erstere beruhen auf der Aktivierung von Nozizeptoren, Letztere sind Folge der direkten Schädigung oder einer Erkrankung somatosensorischer Nervenstrukturen. Als dritte und neue Kategorie hat der sogenannte noziplastische Schmerz Eingang in die ICD-11 gefunden, erklären Dr. Lucas und Kollegen. Er entsteht aufgrund einer veränderten Schmerzwahrnehmung. Eindeutige Hinweise auf eine Gewebeschädigung mit Aktivierung peripherer Nozizeptoren fehlen allerdings, eine Erkrankung oder
Läsion des somatosensorischen Systems liegt ebenfalls nicht vor.

Oft geht chronischer Schmerz mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, mit Depressionen und Ängsten einher. Da derartige psychische Komorbiditäten das Behandlungsergebnis beeinträchtigen können, sollten sie schon beim Erstkontakt des Patienten mithilfe geeigneter Fragebögen evaluiert werden.

Darüber hinaus leiden viele Schmerzpatienten unter Schlaf- und Konzentrationsstörungen, was die Schmerzen aufrechterhalten, die Lebensqualität einschränken und psychische Erkrankungen nach sich ziehen kann. Weitere Faktoren, die den Dauerschmerz am Laufen halten, sind Alkoholkonsum, Rauchen, Bewegungsmangel sowie ein niedriger sozioökonomischer Status. Welche Bedeutung psychosoziale Faktoren für die Schmerzerkrankung haben, sollte dem Kranken von Anfang an, mit Beginn der Diagnostik vermittelt werden. So lässt sich vermeiden, dass sich der Patient später psychisch gebrandmarkt fühlt, schreiben die Kollegen.

An die Anamnese schließt sich eine vollständige körperliche Untersuchung an. Um im Fall muskuloskelettaler Schmerzen strukturelle Ursachen erkennen zu können, sollte zudem eine symptombezogene orthopädische Untersuchung erfolgen, bei entsprechenden Hinweisen auch die Vorstellung beim Kollegen aus der Neurologie.
Folgende Laborparameter sollten standardmäßig erhoben werden:

  • Blutsenkungsgeschwindigkeit
  • CRP
  • Differenzialblutbild
  • Kreatinkinase
  • Kalziumspiegel
  • TSH basal
  • 25-Hydroxy-Vitamin-D3

Anhand der Befunde lassen sich gegebenfalls Polymyalgia rheumatica oder rheumatoide Arthritis, Muskelerkrankungen, Hyperkalzämie, Hypothyreose oder ein Vitamin-D-Mangel erkennen. Bei entsprechenden klinischen Hinweisen sind weitere Untersuchungen erforderlich. Je nach Symptomen und Risikofaktoren sollte grundsätzlich eine
stufenweise Ausschlussdiagnostik
erfolgen.

Chronische Schmerzen gehen häufig mit starken psychischen Belastungen einher. Bei schwerem Krankheitsverlauf ist eine psychologische oder psychotherapeutische Begleitung indiziert. Sowohl Hausärzte als auch Kollegen anderer Fachbereiche können durch gezielte Anamnese und eine versierte ärztliche Gesprächsführung die Selbstwirksamkeit ihres Patienten stärken.Das Ziel ist es, das subjektive Schmerzempfinden und die individuelle Bedeutung des Schmerzes für den Betroffenen zu ermitteln.

Patient muss Potenzial der Selbstwirksamkeit verstehen

So sollte etwa nach Problemen am Ausbildungs- oder Arbeitsplatz sowie im sozialen Miteinander gefragt werden. Auch mögliche Unsicherheiten mit Blick auf die körperliche Belastbarkeit sowie Zukunftsängste oder ein Fortschreiten der Erkrankung sollten ein Thema sein. Im Vordergund steht, das Vertrauen des Patienten in seinen Körper zu stärken und ihm zu verdeutlichen, dass er selbst das Schmerzgeschehen maßgeblich beeinflussen kann, betonen Dr. Lucas und Kollegen.

Unrealistische Erwartungen, dass durch eine Wunderpille eine vollständige Heilung möglich ist, gilt es zu dämpfen. Der Kranke soll vielmehr begreifen, dass die pharmakologische Therapie nur einer von vielen Bausteinen im Rahmen eines multimodalen Behandlungskonzeptes sein kann. Hierzu zählen schmerzpsychologische Maßnahmen und das Erlernen von Entspannungstechniken ebenso wie Biofeedback-Sitzungen, Verhaltens- und psychodynamische Therapien sowie Achtsamkeitstrainings. Wie die Autoren darlegen, halten in jüngerer Zeit zunehmend neuartige, z.B. traumafokussierte Interventionsmethoden wie das Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) und die Emotional Awareness and Expression Therapy (EAET) Einzug in die klinische Versorgung bei chronischem Schmerz.

* International Classification of Diseases

Quelle: Lucas V et al. Fortschr Neurol Psychiatr 2022; 90: 291-308;  DOI: 10.1055/a-1803-8641