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Antidepressiva und Neuroleptika Nicht hetzen beim Absetzen

Autor: Maria Weiß

Nicht selten sind es Absetzphänomene, die alle Versuche, ohne die Psychopharmaka auszukommen, regelmäßig scheitern lassen. (Agenturfoto) Nicht selten sind es Absetzphänomene, die alle Versuche, ohne die Psychopharmaka auszukommen, regelmäßig scheitern lassen. (Agenturfoto) © iStock/SDI Productions
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Nach der akuten Phase einer psychischen Erkrankung wollen viele Patienten das eingenommene Antidepressivum oder das Neuroleptikum oft so schnell wie möglich wieder loswerden. Damit das gefahrlos und ohne Rückschläge gelingt, ist einiges zu beachten.

Der Langzeitgebrauch von Psychopharmaka ist in vielen Fällen sinnvoll, notwendig und leitlinienkonform. Etwa dann, wenn man nach multiplen Vorepisoden mit dem Wiederauftreten der Grunderkrankung – auch verbunden mit Suizidgedanken – rechnen muss. Mit der Dauertherapie steigt aber die Gefahr von Polypharmazie und Wechselwirkungen mit anderen Substanzen sowie die Wahrscheinlichkeit von unerwünschten Arzneimitteleffekten.

Nicht selten sind es Absetzphänomene, die alle Versuche, ohne die Psychopharmaka auszukommen, regelmäßig scheitern lassen, schreiben Privatdozent Dr. ­Michael ­Paulzen vom Alexianer Krankenhaus in ­Aachen und Kollegen. Nur wer die Zusammenhänge kennt und weiß, wie sich den quälenden Erscheinungen beim Beenden der Therapie begegnen lässt, kann seinem Patienten in dieser Situation zur Seite stehen und mit ihm gemeinsam schon frühzeitig die richtigen Entscheidungen treffen.

Antidepressiva sind die am häufigsten eingesetzten Psychopharmaka. Die wenigsten Patienten nehmen die einmal verordneten Medikamente ununterbrochen für den Rest ihres Lebens ein.

Einnahmestopp erfolgt oft ohne Rücksprache

Für die meisten kommt früher oder später der Zeitpunkt, die Therapie umzustellen oder die Tabletten und Kapseln abzusetzen – und oftmals geschieht dies in Eigenregie der Betroffenen. Gründe können Neben- und Wechselwirkungen der Substanzen oder Unverträglichkeiten sein, fehlendes Ansprechen oder die dauerhafte Remission der psychischen Erkrankung. Um Adhärenz und Kooperationsbereitschaft der Patienten von vornherein zu fördern, sollten die geplante Behandlungsdauer, das Vorgehen am Ende der Pharmakotherapie sowie die zu erwartenden Absetzerscheinungen bereits beim Eindosieren ein Thema sein und mit dem Betroffenen und seinen Angehörigen besprochen werden, lautet die dringende Empfehlung der Psychiater.

In den Tagen nach Dosisreduktion oder dem Absetzen von Antidepressiva kann es zu einer ganzen Reihe unterschiedlichster Symptome kommen, die zum Teil denen der ursprünglichen Krankheit ähneln (s. ­Kasten). In aller Regel sind die Phänomene erst nach vier bis acht Wochen antidepressiver Pharmakotherapie zu erwarten. Sie sind meist vorübergehend und selbstlimitierend, können aber – abhängig von der Halbwertzeit der Substanz – bis zu sechs Wochen andauern.

Sechs Punkte abfragen

Die Phänomene beim Absetzen von Antidepressiva (SSRI und SNRI) lassen sich mit dem Akronym FINISH abfragen:
  • Flue-like: grippeähnliche Symptome (z.B. Kopf- und Gliederschmerzen, Schüttelfrost, Schwitzen, Müdigkeit, Lethargie)?
  • Insomnia: Schlafstörungen, Albträume, vermehrtes Träumen?
  • Nausea: Übelkeit und Erbrechen, Durchfall, Inappetenz?
  • Imbalance: Gleichgewichtsstörungen, Schwindel, Gangstörungen, Koordinationsstörungen?
  • Sensory disturbances: Dysästhesien, stromschlagähnliche Phänomene?
  • Hyperarousal: Ängstlichkeit, Agitation, Reizbarkeit, Wutausbrüche?
Weitere Absetzerscheinungen können sein: extrapyramidal-motorische Symptome, kognitive Beeinträchtigungen (Verwirrung, Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit), Herzrhythmusstörungen, gehobene Stimmung, gedrückte Stimmung

Wichtig ist in dieser Situation die Abgrenzung gegenüber einem Rebound der Grunderkrankung, der später als die Absetzphänomene und üblicherweise innerhalb von sechs Wochen auftritt. Vor allem bei psychischen Symptomen wie Depressivität, Affektdurchlässigkeit, bei Ängsten oder Suizidgedanken kann die Unterscheidung vom Rebound schwierig werden.

Einige Antidepressiva sind auch als Tropfen erhältlich

Um die Absetzerscheinungen ab­zuschwächen, sollte die Dosis schrittweise und über einen längeren Zeitraum reduziert werden. Dabei hat es sich nach dem Motto „go slow when you get low“ bewährt, proportionale Reduktionsschritte von 10 % der letzten Dosis vorzunehmen. Im Niedrigdosisbereich stehen zu diesem Zweck einige Antidepressiva als Tropfen zur Verfügung. Auch bei der antipsychotischen Behandlung der Schizophrenie setzt man heute nicht mehr generell auf die Dauertherapie, sondern geht individuell angepasst vor. Die Belastung der Psychosepatienten durch unerwünschte Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Bewegungsstörungen und Sedierung spielt bei der Therapie mit Neuroleptika eine größere Rolle als bei den antidepressiven Medikamenten. Auf der anderen Seite muss man beim Psychotiker das hohe Rezidivrisiko nach Ende der Pharmakotherapie im Blick haben. Von Beginn an sollten die Patienten möglichst auf die minimal effektive Dosis des Antipsychotikums eingestellt werden. Besonders behutsam sollte das Eindosieren bei Ersterkrankung und bei älteren Patienten erfolgen. Auch bei den Neuroleptika erfolgt das Absetzen in kleinen Schritten mit Dosisminderungen von 5 % bis 20 %, in der Regel im Rhythmus von sechs bis zwölf Wochen. Typische Phänomene beim Absetzen der antipsychotisch wirkenden Substanzen sind Unruhe, Reizbarkeit, Depression und Angst. Hinzu kommen Übelkeit, Schwindel, Schwitzen, Tachykardie, übermäßiges Schmerzempfinden sowie kognitive Störungen. Auch Dyskinesien in Form unwillkürlicher abnormer Bewegungen, die teils über Monate hinweg auftreten, werden beschrieben.

Quelle: Paulzen M et al. Psychopharmakotherapie 2021; 28: 155-167