Anzeige

Fahrtauglichkeit bei Diabetes Unterzuckerung wichtigster Risikofaktor für erhöhtes Unfallrisiko

Diabetes Kongress 2023 Autor: Antje Thiel

Menschen mit ­Diabetes haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Verkehrsunfälle. Menschen mit ­Diabetes haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Verkehrsunfälle. © Panumas – stock.adobe.com
Anzeige

Menschen mit Diabetes sind häufiger in Verkehrsunfälle verwickelt als Personen mit gesundem Stoffwechsel. Um wie viel höher ihr Risiko ist, lässt sich allerdings nur schwer ermitteln. Die neuen Leitlinien zur Begutachtung der Fahreignung bei Diabetes, die demnächst erscheinen werden, dürften dieser Unsicherheit Rechnung tragen.

Diabeteskomplikationen wie unbemerkte Hypoglykämien am Steuer erhöhen die Gefahr von Verkehrsunfällen. Eine Meta­analyse aus dem Jahr 2016 ergab ein um 11  % erhöhtes Risiko für Zusammenstöße bei Menschen mit Dia­betes, wobei Unfälle in erster Linie bei insulinbehandelten und älteren Personen gehäuft auftraten. Prof. Dr. Reinhard Holl, Diabetologe an der Universität Ulm und Koordinator des DPV*-Registers, stellte aber auch eine schwedische Untersuchung vor, nach der Diabetes das Risiko sogar um 28 % erhöht. Insgesamt zeigten internationale Studien ein uneinheitliches Bild, was die Auswirkungen des Diabetes auf die Wahrscheinlichkeit der Kollisionen betrifft.

Als Ursachen für Verkehrsunfälle kommen eine ganze Reihe von Komplikationen infrage, darunter therapie­induzierte Hypo­glykämien, akute Hyperglyk­ämien, Sehstörungen infolge von Retino- oder Makula­pathien, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psych­iatrische Komorbiditäten, Schlaf-Apnoe-Syndrom oder Neuropathie. „Dabei spielt der HbA1c-Wert übrigens keine entscheidende Rolle“, erklärte Prof. Holl. Für das Unfall­risiko sei es unerheblich, ob jemand einen HbA1c-Wert von 7 % oder 9 % hat, solange keine unbemerkten Hypo­glykämien auftreten.

Objektive Einschätzung von Hypoglykämien ist schwierig

Allerdings sei eine uneingeschränkte Hypoglykämiewahrnehmung eine schwierige Bedingung, wie der in Wetzlar niedergelassene Diabetologe Friedrich­ Petry­ anmerkte: „Es gibt leider keine physikalisch objektiven Grenzwerte. Viele Menschen mit Typ-1-Diabetes fühlen sich mit 50 mg/dl fit und in der Lage, ein Fahrzeug zu führen.“ Ohne Frage schränkten Hypoglykämien kognitive wie exekutive Funktionen signifikant ein. Mittlerweile lassen sich viele gefährliche Unterzuckerungen aber mittels Diabetes­technologien vermeiden (s. Kasten).

Mit Technik gegen Hypoglykämien

Seit 2017 die derzeit gültige Leitlinie erstellt wurde, hat sich auf dem Gebiet der Diabetestechnologie viel getan. Bereits Insulinpumpen verringern nachweislich das Risiko für Hypoglykämien, berichtete der Psychologe Prof. Dr. Bernhard Kulzer vom Diabetes Zentrum Mergentheim. Geräte zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM-Systeme) wiederum können durch Trendpfeile, Alarme sowie die Anzeige und Auswertung von hypoglykämischen Ereignissen das Risiko weiter verringern – sofern sie sinnvoll eingestellt und die Alarme beachtet werden. Automatisierte Systeme können auf die vom CGM-System detektierten Ereignisse mit einer Reduktion der Insulingabe reagieren und so die Sicherheit weiter erhöhen. „Es gibt Evidenz dafür, dass Patienten im Alltag umsetzen, was wir ihnen raten“, so Prof. Kulzer. „Aber es gibt exakt null Studien zum Zusammenhang zwischen CGM und Unfallhäufigkeit, das ist ein klarer Aufruf an uns und die Industrie!“

Auch Depressionen und kognitive Störungen, die bei Diabetes häufiger als in der Allgemeinbevölkerung auftreten, können sich auf die Fahreignung auswirken. Schließlich treten bei Depressionen häufig z.B. Antriebslosigkeit, Energiemangel, Tagesmüdigkeit, verminderte Konzen­tration, Schlafstörungen und sogar suizidales Verhalten auf. Immerhin: Werden Depressionen medikamentös therapiert, erhöht sich das Unfallrisiko nur moderat, berichtete Eva Küstner, Fachpsychologin Diabetes (DDG) aus Gau-Bischofsheim. „Möglicherweise fahren diese Menschen weniger – oder sie sind sich ihrer Einschränkungen bewusst und fahren vorsichtiger?“ Bei schweren Depressionen mit psychotischem Syndrom sei eine Fahreignung aber nicht mehr gegeben, mahnte sie.

Sie empfahl, die Patienten auf Depressionen und antidepressive Therapien und deren Auswirkungen auf die Fahrtauglichkeit anzusprechen. Gleiches gelte bei einer Demenz, die zumindest im fortgeschrittenen Stadium das Unfallrisiko erhöht.

Obwohl demenzielle Veränderungen meist erst im höheren Lebensalter auftreten, scheint das Alter allein kein geeigneter Indikator für die Unfallneigung bei Diabetes zu sein, so der in Bosenheim niedergelassene Diabetologe Stephan­ Maxeiner­. Schließlich seien ältere Menschen mit Diabetes eine sehr inhomogene Gruppe: „Es gibt Leute, die seit 55 Jahren Typ-1-Diabetes haben, ebenso wie Menschen, die seit 15 Jahren mit Typ-2-Diabetes leben und erst seit einem Jahr abends 20 Einheiten Basal­insulin spritzen.“ Die Bewertung internationaler Studien und Metastudien zu diesem Thema gestalte sich schwierig, da in den verschiedenen Ländern z.T. sehr unterschiedliche Regularien in Bezug auf die Fahreignung von Diabetikern gelten.

Kein generell erhöhtes Risiko für Unfälle im Straßenverkehr

Für Maxeiner ist klar: „Es ist eine überholte Vorstellung zu glauben, dass Diabetes generell ein erhöhtes Risiko im Straßenverkehr darstellt.“ Er plädierte für mehr Rücksichtnahme und die individuelle Betrachtung der Risiken. Mit Blick auf die erwarteten neuen deutschen Leitlinien zur Begutachtung der Fahreignung erklärte er: „Es ist unsere Aufgabe, auf eine Anpassung der Regularien hinzuwirken, wenn sie veraltet sind.“

*    Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation

Kongressbericht: Diabeteskongress 2023