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Individueller Trainingsplan Verletzte Hamstrings brauchen Zeit

Autor: Nils Bröckelmann

Nach Verletzungen der ischiocruralen Muskulatur sollten Athlet:innen erst dann in den Leistungssport zurückkehren, wenn sie sich selbst dafür bereit fühlen. Nach Verletzungen der ischiocruralen Muskulatur sollten Athlet:innen erst dann in den Leistungssport zurückkehren, wenn sie sich selbst dafür bereit fühlen. © Maridav – stock.adobe.com
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Verletzungen der ischiocruralen Muskulatur sind im Leistungssport häufig und einer der wichtigsten Gründe für längere Ausfälle. Ein Expertengremium gibt Empfehlungen zum Ablauf einer nachhaltigen Reha und zur Wiederaufnahme des aktiven Sports.

In Sportarten wie Fußball, Handball oder Laufen hat sich die Häufigkeit von Verletzungen der ischiocruralen Muskulatur in den letzten zwei Jahrzehnten auf einem hohen Level eingependelt. Verletzungsbedingte Zwangspausen sind belastend für die Sportler und ziehen im Profisport oft hohe Kosten nach sich. Nicht zuletzt wegen Interessen Dritter kehren die Athleten häufig bereits zurück aufs Spielfeld, wenn das Rückfallrisiko noch deutlich erhöht ist, beklagen Professor Dr. ­Bruce ­Paton vom University College London.

Die klassische Rehabilitation berücksichtigt Bereiche wie Kräftigung, Beweglichkeit und Rumpfstabilisierung sowie Lauf- und Dehnübungen. Diese Methoden wurden den Autoren zufolge in Studien meist einzeln und nicht im Rahmen von kombinierten Programmen untersucht, die auf klinischen Überlegungen basieren. Die Datenlage sei somit heterogen – insbesondere was höhergradige Verletzungen angehe.

Um eine Richtschnur für die optimale Reha nach einer Verletzung der ischiocruralen Muskulatur zu entwickeln, befragten Prof. Paton und Kollegen eine Vielzahl von Sportmedizinern, Physiotherapeuten und chirurgisch tätigen Orthopäden. Die Ergebnisse des mehrstufigen Delphi-Verfahrens fassten sie in einem Konsensuspapier ­zusammen.

Demnach sind sich die Experten einig, dass die Rehabilitation nach einer Verletzung der Hamstrings in hohem Maße individualisiert erfolgen muss. Sie sollte insbesondere zugeschnitten werden auf die Art der Verletzung und die Anforderungen, die die jeweilige Sportart an die hintere Oberschenkelmuskulatur stellt. Da die Faszien, Muskeln und Sehnen nach einer Verletzung in unterschiedlicher Weise auf Belastung reagieren und heilen, sollte genau darauf geachtet werden, welche Bereiche betroffen sind. Es gibt Hinweise darauf, dass myo­fasziale Gewebe schneller heilen als solche des muskulotendinösen Übergangs oder reine Sehnenverletzungen. 

Anhaltspunkte für die Belastungssteigerung

Kriterium

Expertenmeinung

Schmerz

Hauptkriterium für die Belastungssteigerung

Kraft

entscheidend für die weitere Reha; Relevanz der einzelnen Kraftkomponenten ist jedoch unklar

Funktionsgrad

wichtig; Empfehlung hinsichtlich spezieller Tests oder Meilensteine liegt nicht vor

Beweglichkeit

weniger wichtig

Schwere der Verletzung

v.a. in der Anfangsphase zu berücksichtigen; Vorsicht ist bei Sehnenverletzungen geboten

Zu Beginn der Reha darf das verletzte Gewebe nicht zu stark belastet und gedehnt werden, so der Konsens. Über Art und Reihenfolge eines geeigneten Trainings waren sich die Experten jedoch uneins. Fakt ist, dass Patienten durch konzentrische Übungen weniger schnell Kraft aufbauen als durch isometrische – allerdings gleichzeitig das umliegende Gewebe auch weniger stark dehnen. Um möglichen Rückfällen vorzubeugen, empfehlen die Experten, das gesamte untere Bein ins Training einzubeziehen. Auf diese Weise lasse sich ein gesunder Bewegungsablauf wiederherstellen.

Zu den Kriterien, die bei einer schrittweisen Steigerung der Belas­tung beachtet werden sollten, zählen vor allem Schmerzen und die Kraft, die ein Athlet mit dem verletzten Muskel aktuell aufbringen kann. Während etwa beim Laufen leichte Schmerzen tolerierbar seien, müssten andere Aktivitäten (z.B. Sprinten) nach Meinung der Experten stets schmerzfrei bleiben. Auf eine Schmerzschwelle konnten sich die Befragten jedoch nicht einigen.

In der späteren Phase der Rehabilitation spielen Laufübungen und Sprints eine große Rolle und sollten vor der Wiederaufnahme des aktiven Sports bewusst gefördert werden. Der mögliche Bewegungsumfang (engl. range of movement) war nach Meinung der Spezialisten ein eher nachrangiges Kriterium. Ein Teil der Befragten mahnte jedoch zur Vorsicht bei Vorliegen einer Sehnenverletzung, da es in diesen Fällen vermehrt zu einer erneuten Ruptur kommen könne.

Experten über Stellenwert neuer Rehaverfahren uneins

Ergänzend zum klassischen Repertoire gibt es einige neue Ansätze im Rehabereich. Dazu zählen beispielsweise die elektrische Muskelstimulation oder das Üben unter Blutflussrestriktion. Die Verfahren erlauben den früheren Einstieg ins Krafttraining bei geringerer Belastung. Über den Stellenwert herrscht jedoch Uneinigkeit. Bildgebende Verfahren nutzte hingegen keiner der Experten zur Dokumentation des Heilungsprozesses. Initial könne z.B. eine MRT jedoch nützlich sein, um die Schwere der Verletzung abzuschätzen.

In einem waren sich fast alle Experten einig: Der Athlet sollte erst dann in den Leistungssport zurückkehren, wenn er sich dies auch selbst zutraut. Besonders wichtig ist, dass er sich bereit fühlt für intensive Belastungen. Negative Gefühle wie Angst vor erneuten Verletzungen können die sportliche Leistungsfähigkeit einschränken und Schmerzen befördern.

Quelle: Paton BM et al. Br J Sports Med 2023; 57: 278-291; DOI: 10.1136/bjsports-2021-105384