Interview mit Prof. Dr. Joachim Wiskemann Warum Krebspatient:innen ein Training empfohlen werden muss und woran das noch hakt 

Autor: Dr. Miriam Sonnet

Körperliche Aktivität ist wichtig, denn jede Bewegung zählt, sagt Prof. Wiskemann vom NCT. Körperliche Aktivität ist wichtig, denn jede Bewegung zählt, sagt Prof. Wiskemann vom NCT. © Kannapat – stock.adobe.com

Körperliche Aktivität wirkt sich positiv bei einer Krebserkrankung aus. „Jede Bewegung ist besser als keine“, sagt daher Prof. Dr. Joachim Wiskemann, NCT Heidelberg, im Interview. Er spricht unter anderem über Empfehlungen zum Trainingsumfang.

Herr Prof. Wiskemann, körperliche Aktivität verbessert bekanntlich die Lebensqualität von Krebspatient:innen. Haben Studien auch einen positiven Effekt auf progressionsfreies und Gesamtüberleben bzw. Rezidive ergeben?

Schon seit circa 20 Jahren gibt es Hinweise aus beobachtenden Studien, dass eine Assoziation besteht zwischen vermehrter körperlicher Aktivität und einer besseren Prognose von Krebspatient:innen. Auch retrospektiv analysierte klinische Studien bestätigten die Beobachtungen – allerdings waren diese Untersuchungen statistisch nicht ausreichend gepowert, um das Überleben zu evaluieren. 

Mittlerweile wurden aber Daten der ersten randomisiert kontrollierten Studie namens CHALLENGE publiziert, die das krankheitsfreie Überleben als primären Endpunkt hatte. Darin hatten Darmkrebserkrankte nach dem Ende der Chemotherapie an einem dreijährigen Bewegungsprogramm teilgenommen oder nicht. Das krankheitsfreie Überleben nach fünf Jahren verbesserte sich durch die Intervention um rund 7 %. Ähnliche Effekte gab es für das Gesamtüberleben nach acht Jahren. 

Das sind in etwa dieselben Effektgrößen, die bspw. für Oxaliplatin in der Zulassung beobachtet wurden. Bewegung ist demnach so effektiv wie ein onkologisches Medikament. Sie kann und soll auch keine Krebstherapie ersetzen, gehört aber zu einer modernen onkologischen Therapie dazu und muss daher zwingend empfohlen werden.

Die Leitlinie „Komplementärmedizin“ empfiehlt unter und nach Abschluss der Krebstherapie körperliche Aktivität mit mindestens 150 Minuten moderater oder 75 anstrengender Bewegung. Wie klappt das in der Praxis?

Diese Bewegungsempfehlungen haben das Ziel, möglichst einfach, kurz und prägnant gehalten zu sein. Dabei wird aber nicht auf individuelle Situationen Rücksicht genommen. 150 Minuten sind für jemanden, der sich bisher kaum bewegt hat, sehr viel und vermutlich kaum erreichbar. Zunächst gilt es, die Patient:innen in Bewegung zu bringen und das Programm an die individuelle Situation anpassen. Jede Bewegung ist besser als keine.

Beispielweise reichen für Menschen mit Fatigue über die Woche verteilt zwischen 60 und 90 Minuten aus. Die Betroffenen sollten dabei aber immer an ihre jeweilige persönliche Belastungsgrenze kommen. Das bedeutet nicht, dass sie sich völlig verausgaben müssen. Vielmehr geht es darum, die Anstrengung zu spüren und den Körper an einen Punkt zu bringen, an dem er mit der Belastung so nicht zurechtkommt. Als Folge davon passt sich dann der Körper in Regenerations- und Ruhephasen an und wird leistungsfähiger.

Zurzeit wird die S3-Leitlinie „Bewegungstherapie bei onkologischen Erkrankungen“ bearbeitet. Was sind wichtige Inhalte?

Die Grundidee der Leitlinie ist es, jeder Person, die mit onkologischen Erkrankten arbeitet, praktische Hinweise an die Hand zu geben. Wir möchten darüber informieren, wie Bewegung in den verschiedenen Kontexten der Krebstherapie und Nachsorge zu empfehlen ist und was man dabei beachten muss. Auch wird es in der Leitlinie konkrete Aussagen über eine effektive Dosis einer Bewegungstherapie geben. Die Leitlinie soll den Weg dafür ebnen, dass Bewegung in die Routineversorgung implementiert werden kann.

Was sind die größten Hindernisse für die Patient:innen, körperlich aktiv zu sein und wie können Behandelnde sie dazu motivieren?

Die Fatigue sehen viele als extremes Hindernis, ebenso wie Tumor- und Gelenkschmerzen. Dabei kann Bewegung beides verbessern. Oft berichten die Patient:innen auch, dass sie keine Zeit für Sport haben. Dieses Problem ist eher auf die psychische Belastung zurückzuführen. Häufig mangelt es darüber hinaus an fehlenden Ansprechpartner:innen und Unterstützungsmöglichkeiten, um in Bewegung zu kommen. 

Gegen alle diese Punkte hilft Aufklärung. Hilfreich ist qualifiziertes Personal in den Kliniken, das zu Bewegung (-stherapien) beraten kann. Krebserkrankte können nicht nur in Kliniken trainieren, sondern u. a. auch in Physiotherapieeinrichtungen, gesundheitsorientierten Fitnessstudios und Sportvereinen mit Reha-Angeboten. 

Nicht zuletzt spielt die Aufklärung von Ärzt:innen und Pflegekräften eine wichtige Rolle. Zusammen mit der Deutschen Krebshilfe haben wir daher das Projekt MOVE ONKO gestartet, in dessen Rahmen wir Pflegekräfte, Ärzt:innen, Psychoonkolog:innen und Ernährungsberater:innen zu Bewegungslotsen qualifizieren. Die Teilnehmenden erlernen eine Grundkompetenz, um zum Thema Bewegung beraten zu können.

Welches Training wird für welche Patient:innen empfohlen?

Meist wird eine Kombination aus Kraft- und Ausdauertraining empfohlen. Das lässt sich auch gut messen beziehungsweise beschreiben. Eine Yoga-Intervention hingegen ist wesentlich komplizierter zu quantifizieren, was aber nicht heißt, dass sie nicht sinnvoll ist. Viele Studien zeigen, dass Yoga ähnlich effektiv ist wie Kraft- und Ausdauertraining.

Die Empfehlungen für ein bestimmtes Training haben meist nichts mit der Diagnose, sondern mit dem Nebenwirkungsprofil der onkologischen Therapie zu tun. Zum Beispiel geht eine endokrine Behandlung mit dem Risiko für einen Knochensubstanzverlust einher. Dann sollen die Betroffenen ein Krafttraining durchführen, das auf die Knochenstruktur wirkt. Kardiotoxische Chemotherapien greifen den Herzmuskel an. Diese Patient:innen profitieren von einer zyklischen Ausdauerbewegung unter therapeutischer Betreuung.

Wann sind Sport und Bewegung kontraindiziert?

Es gibt für Bewegung fast keine Kontraindikationen von Dauer, allerdings müssen passagere Faktoren beachtet werden. Zum Beispiel ein Infekt – hier ist Sport tabu. Auch bei einem nicht gut eingestellten Bluthochdruck ist Vorsicht geboten, ebenso bei schwerwiegenden Nieren- und Lebererkrankungen. Eine absolute Kontraindikation sind Thrombosen, wobei man hier die Bewegung nach vier Wochen Antikoagulation in der Regel und nach Rücksprache mit den Ärzt:innen wieder aufnehmen kann.

Auch wenn das Blut sehr stark durch Krankheit oder Chemotherapie beeinträchtigt ist, dürfen sich die Patient:innen nicht bewegen, weil das Blutungsrisiko zu hoch ist. Ein schlechtes Immunsystem hingegen, also niedrige Zahlen von Granulozyten oder Leukozyten, ist keine Kontraindikation, nur sollte man dann eben nicht mit vielen anderen Menschen gemeinsam trainieren.

Bei stabilen und instabilen Knochenmetastasen ist Bewegung ebenfalls möglich, allerdings nicht, wenn akute Brüche vorliegen. Man sollte unbedingt vorher abklären, wo die Läsion liegt und ob sie stabil oder instabil ist. Ein durch Bewegungstherapeut:innen erstelltes Trainingsprogramm ist empfehlenswert.

Welche Angebote speziell für Krebspatient:innen gibt es in Deutschland?

Das Netzwerk OnkoAktiv bietet einen Überblick über die verschiedenen Angebote in ganz Deutschland. Hier lassen sich spezielle Bewegungsprogramme über eine Postleitzahlensuche finden. 

Darüber hinaus gibt es Angebote im Bereich von z. B. Rehabilitationssport, den die Krankenkassen zahlen. Bei der onkologischen Trainingstherapie, kurz OTT, wiederum handelt es sich um eine spezifische Versorgung, einen Selektivvertrag, der leider nur von wenigen Krankenkassen übernommen wird. Dasselbe gilt für die FPZ-Krebstherapie.

In der Nachsorge stehen sogenannte T-RENA- oder I-RENA-Angebote nach der onkologischen Rehabilitation zur Verfügung. Bei ersterem handelt es sich um ein rein trainingstherapeutisches Programm, bei letzterem um eine interdisziplinäre Nachsorge.

Quelle:
Interview: Dr. Miriam Sonnet

Prof. Dr. Joachim Wiskemann, Leiter der AG „Onkologische Sport- und Bewegungstherapie“ am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg
Prof. Dr. Joachim Wiskemann, Leiter der AG „Onkologische Sport- und Bewegungstherapie“ am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg © zVg