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Epilepsie Wer braucht nach dem ersten Anfall eine Therapie?

Autor: Manuela Arand

Die Behandlung von Epilepsie-Patienten sollte sich nach den Umständen im Einzelfall richten. Die Behandlung von Epilepsie-Patienten sollte sich nach den Umständen im Einzelfall richten. © Tunatura – stock.adobe.com
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Viele Patienten erleiden nach einem Krampfanfall nie wieder einen zweiten. Die Herausforderung liegt darin, diejenigen zu identifizieren, die schon nach dem ersten Ereignis eine Therapie benötigen. 

Geschätzt jeder Zehnte macht irgendwann im Leben einen Krampfanfall durch – zwei von drei Betroffenen bleiben danach anfallsfrei. Dass das Phänomen so häufig auftritt, darf nicht dazu verleiten, ein erstes Ereignis weniger ernst zu nehmen, betonte Dr. ­Mar ­Carreño ­Martínez, Universität Barcelona. Zum einen können sich dahinter lebensbedrohliche metabolische Entgleisungen, Drogen­abusus, Arzneimitteltoxizität oder strukturelle Hirndefekte verbergen. Zum anderen markiert der Anfall in einigen Fällen den Beginn einer Epilepsie, die behandelt gehört, auch um kognitive und psychiatrische Komplikationen zu vermeiden. 

Veraltete Definition spukt noch in den Köpfen

Die vielen Kollegen noch geläufige Definition, dass die Diagnose Epilepsie zwei oder mehr unprovozierte Krampfanfälle im Abstand von mehr als 24 Stunden voraussetzt, ist obsolet. Denn es gibt auch Patienten mit eindeutigem klinischem Bild und auffälligem EEG-Befund, bei denen man keinen zweiten Anfall abwarten kann, bevor sie eine Therapie erhalten. Die International League Against Epilepsy hat die Definition vor einigen Jahren schon ergänzt und präzisiert. Sie umfasst jetzt auch Patienten mit einem ersten Krampfanfall, bei denen von einem hohen Rezidivrisiko (> 60 %) auszugehen ist, wie es auch nach zwei unabhängig voneinander auftretenden Anfällen besteht.

Im Einzelfall kann das Rezidiv­risiko bereits nach dem ersten Anfall wesentlich höher liegen als 60 %, erklärte Dr. ­Carreño ­Martínez. Eine einfache Formel, um diese Wahrscheinlichkeit zu berechnen, gibt es aber leider nicht. Dazu tragen auch Schwierigkeiten bei der Anamnese bei: War es überhaupt der erste Krampfanfall? „Manche Patienten hatten schon mehrere oder sogar generalisierte motorische Krampfanfälle, die unbemerkt blieben, weil sie im Schlaf abliefen“, so die Expertin.

Viele hätten zudem Ereignisse in der Vorgeschichte, die sie nicht als Krampfanfälle wahrgenommen haben: etwa abdominale und psychische Auren, myoklonale Krämpfe nach Schlafentzug bei jungen Menschen und Absencen. Dr. ­Carreño ­Martínez kennt Patienten, die viele Jahre lang abdominale Auren hatten, welche als Refluxkrankheit fehldiagnostiziert wurden. Psychische Auren werden dagegen oft mit Panikattacken verwechselt. Der gründlichen Eigen- und Fremdanamnese kommt also eine große Bedeutung zu.

Klar ist, dass vor allem die Ätiologie des Krampfanfalls das weitere Risiko bestimmt. Nach erstem generalisiertem tonisch-klonischem Krampfanfall beträgt das Risiko 30 %, binnen fünf Jahren einen zweiten zu erleiden. Es steigt, wenn eine neurologische Grunderkrankung vorliegt oder das EEG epileptiforme Aktivität zeigt. Mit einem erhöhten Risiko assoziiert sind wahrscheinlich Krampfanfälle im Schlaf. Dagegen ist die Bedeutung von familiärer Belastung, Liquorbefunden und dem Nachweis antineuronaler Antikörper noch unklar. Die MRT hilft bei der Suche nach zerebralen Läsionen, stößt aber an Grenzen bei subtilen Befunden, z. B. kortikalen Dysplasien. Wenn sie potenziell epileptogene Schäden zeigt, gilt das als Zeichen eines hohen Rezidiv­risikos, rechtfertigt die Diagnose Epilepsie und die medikamentöse Therapie.

EEG nicht nur im Wachzustand ableiten

Die Wertigkeit des EEG hängt davon ab, wann und wie es durchgeführt wird: Aussagekräftig sind lange Aufzeichnungen binnen 72 Stunden, besser noch 24 Stunden nach dem Krampfanfall, die den Schlaf einschließen. Bei jedem dritten Patienten mit einem normalen EEG im Wachzustand finden sich auffällige Entladungen im Schlaf, mahnte Dr. Carreño ­Martínez. 

Die Indikation zur medikamentösen Therapie nach dem ersten Krampfanfall ist seit Langem umstritten. Einerseits senkt sie das Risiko erneuter Krampfanfälle in den ersten zwei Jahren um rund ein Drittel und mindert damit auch die Folgen für Gesundheit, Job und Sozialleben. Andererseits vermag sie die Remissionsrate auf lange Sicht nicht zu steigern, wie eine kürzlich aktualisierte Cochrane-Metaanalyse ergab. Dafür kann sie substanzielle Nebenwirkungen auslösen. 

Die Entscheidung für oder gegen die Behandlung ist letztlich immer anhand der Umstände im Einzelfall zu treffen. Sich strikt an die Schwelle von mindestens 60 % Rezidivrisiko zu halten, könne nicht der richtige Weg sein, zumal die Nebenwirkungen vor allem neuerer Antikonvulsiva meist mild und reversibel ausfallen, findet Dr. ­Carreño ­Martínez. Sie neigt zum Beispiel dazu, bei alten Patienten mit erhöhter Sturzneigung großzügig zu therapieren, vor allem wenn der erste Krampfanfall generalisiert tonisch-klonisch war. Die Wünsche des Patienten spielen natürlich ebenfalls eine Rolle. Mancher sträubt sich gegen die Therapie, weil sie für ihn eine Stigmatisierung bedeutet. Andere schätzen die Sicherheit, die ihnen die Medikamente geben, vor allem im Beruf und beim Autofahren.

Quelle: Kongressbericht - 8th Congress of the European Academy of Neurology