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Vorurteile Wie wirken Geschlecht und Herkunft aufs Schmerzempfinden?

Autor: Dr. Anja Braunwarth

Nicht unerwartet spielen die Hormone eine wesentliche Rolle bei der Schmerzwahrnehmung. (Agenturfoto) Nicht unerwartet spielen die Hormone eine wesentliche Rolle bei der Schmerzwahrnehmung. (Agenturfoto) © leszekglasner – stock.adobe.com
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Männer stecken Schmerzen besser weg als Frauen und Menschen aus den Mittelmeerländern jaulen schon bei jedem Wehwehchen laut auf. Was ist dran an diesen Vorurteilen?

Die Forschung hat die möglichen Unterschiede im Schmerzempfinden von Mann und Frau erst in den letzten Jahren in den Fokus genommen. Tatsächlich zeigen epidemiologische Studien bei vielen chronischen Schmerzerkrankungen tatsächlich ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern, und zwar mit einem Überhang bei den Frauen, berichtete Prof. Dr. ­Esther ­Pogatzki-Zahn von der Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie am Universitätsklinikum Münster. So berichten Patientinnen z.B. deutlich häufiger über Muskel- und Weichteilschmerzen. Aber was z.B. die Migräne angeht, erleben sie weniger Anfälle pro Jahr als die Männer.

Beim postoperativen Schmerz hat sich das weibliche Geschlecht neben dem Alter und vorbestehenden chronischen Schmerzen als signifikanter Prädiktor entpuppt. Und in Laboruntersuchungen ermittelte man für Frauen eine niedrigere Schmerzschwelle als für Männer. Nicht unerwartet spielen die Hormone eine wesentliche Rolle bei der Schmerzwahrnehmung.

In der Follikelphase haben die Damen die höchste Schmerztoleranz. „Am besten wäre es, man würde Operationen in diesen Zeitraum legen“, sagte Prof. ­Pogatzki-Zahn. Die endogene Schmerzhemmung zeigt dagegen keine Hormonabhängigkeit. Einen Sonderfall stellen Schwangerschaften dar: „Da werden Frauen quasi zu Supermännern. Ihre Schmerzschwellen steigen deutlich an, zugleich wird die endogene Inhibition verstärkt.“

Zur Rolle von Herkunft und Ethnizität beim Schmerzempfinden präsentierten Prof. Dr. ­Christiane ­Hermann und Dr. ­Judith ­Kappesser von der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Gießen interessante Daten. 2019 hatten in Deutschland 21,2 Mio. Menschen einen Migrationshintergrund, berichtete Prof. ­Hermann. Knapp 30 % von ihnen oder ihrer Vorfahren stammten aus Nicht-EU-Ländern, darunter etwas mehr als 13 % aus der Türkei.

Die Schmerzäußerungen von türkischen Migranten und anderen Süd­europäern werden laut Lehrbuch Schmerzpsychotherapie von Ärzten und Therapeuten oft als übertrieben wahrgenommen und mitunter abwertend als Mittelmeersyndrom oder ­Morbus ­Bosporus bezeichnet. Das wirft einige Fragen auf, meinte Prof. ­Hermann. Etwa, ob Südländer ein anderes Schmerzempfinden als Mitteleuropäer haben und womöglich eine ausgeprägtere Schmerzmimik zeigen. Auch sei weitgehend unklar, welche Rolle kulturelle Anpassungsprozesse in diesem Zusammenhang spielen.

Dazu hat das Gießener Team eine experimentelle Studie durchgeführt, die Dr. ­Kappesser vorstellte. 80 Deutsche mit und ohne türkischen Migratonshintergrund nahmen an der Untersuchung teil, Letztere waren je etwa zur Hälfte an die deutsche bzw. die türkische Kultur angepasst. Die Probanden wurden durch dreiminütiges Eintauchen der Hand in 3 °C kaltes Wasser einem Schmerzreiz ausgesetzt. Dieser Kaltwassertest (cold pressor test, CPT) wurde dann im sozialen Kontext unter Beobachtung und Videoaufzeichung wiederholt, in der Annahme, dass diese Situation Stress erzeugt (social evaluative CPT, SECPT). Ermittelt wurden Schmerzintensität und -toleranz, die Schmerzmimik der Probanden, der Blutdruck und das Ausmaß an Stress, gemessen über den Cortisolspiegel im Speichel.

Im CPT ertrugen deutsch akkulturierte Probanden das kalte Wasser demnach besser als Probanden, die die hiesigen Gepflogenheiten nicht angenommen hatten. Schmerztoleranz und Mimik unterlagen lediglich im sozialen Kontext einem kulturellen Einfluss, subjektiv erlebter Stress war mit Akkulturation und dem sozialen Kontext verbunden. Während der Blutdruck durch den Kaltwassertest unbeeinflusst blieb, stieg die Cortisolkonzentration im Speichel der türkisch akkulturierten Probanden während der Versuche deutlich an.

Die Ergebnisse müssten natürlich reproduziert werden, schränkte die Referentin ein, etwa im Rahmen einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe und bei Menschen mit chronischem Schmerz. Die Resultate aus dem Kaltwassertest zeigen aber, dass man den Grad der Akkulturation seiner Schmerzpatienten immer im Blick haben sollte, meinte Dr. ­Kappesser abschließend. Dabei müsse man sich stets bewusst sein, dass Ethnizität, Herkunft und Migrationshintergrund in diesem Zusammenhang sehr heterogene Konstrukte seien.

Quelle: Schmerzkongress 2022