
Prof. Dr. Heyo Kroemer im Interview Zukunft der Medizin, Digitalisierung und Fachkräftemangel

Vision Zero: Herr Professor Kroemer, mit welchem zeitlichen Horizont geht die Charité in ihre strategische Planung?
Prof. Dr. Heyo Kroemer: Wir haben 2020 ein Strategiepapier mit zehnjähriger Laufzeit veröffentlicht – das aktualisieren wir gerade. Die infrastrukturelle Planung erstreckt sich bis ins Jahr 2050. Gerade für größere Baumaßnahmen ist ein derartiger zeitlicher Vorlauf sinnvoll.
Vision Zero: Was sind wesentliche Annahmen für die Planung?
Prof. Dr. Heyo Kroemer: Wir gehen davon aus, dass wir deutlich weniger Personal zur Verfügung haben werden – ein Effekt, den wir durch Digitalisierung und den Einsatz Künstlicher Intelligenz kompensieren. Darüber hinaus kann es sein, dass das Krankenhaus der Zukunft deutlich weniger Betten hat, weil große Teile der Versorgung in den ambulanten Sektor verlagert werden. Diese Entwicklung wird aber schon seit Jahrzehnten prognostiziert und ist bislang in keiner Weise eingetroffen. Im Gegenteil, man kann auch argumentieren, dass in einer alternden Bevölkerung viele Menschen multimorbid sind und aufgrund der Schwere ihrer Erkrankungen für eine ambulante Versorgung nicht infrage kommen.
Vision Zero: Wovon hängt es denn ab, ob Ihre mittelfristigen Planungen aufgehen?
Prof. Dr. Heyo Kroemer: Das hängt zum einen natürlich von der Gesundheitspolitik ab, zum anderen – meines Erachtens sogar noch mehr – von den technologischen Entwicklungen in der Medizin. Mein Lieblingsbeispiel in dem Zusammenhang ist die Smartwatch, die ich am Handgelenk trage. Mit der kann ich in 30 Sekunden feststellen, ob ich ein Vorhofflimmern habe. Vor 15 Jahren hätte ich in einem Krankenhaus dazu einen Arzt, eine Pflegekraft und eine Verwaltungskraft gebraucht. Mit weiteren Fortschritten in der Sensorik werden wir wahrscheinlich viele Untersuchungen, die heute noch im Krankenhaus durchgeführt werden, zu Hause durchführen können. Diese Entwicklung stützt auch die Hospital-at-Home-Idee, die etwa in Israel bereits sehr weit entwickelt ist. Wir glauben, dass wir in den nächsten Jahren viele einschneidende Veränderungen sehen werden und Medizin neu denken müssen. Deswegen ist die Charité-Strategie auch mit Rethinking Health überschrieben.
Vision Zero: Ein wesentliches Element dabei ist die Digitalisierung …
Prof. Dr. Heyo Kroemer: … und da sind wir auch noch nicht so weit, wie wir gerne wären. Das hat viel damit zu tun, dass deutsche Krankenhäuser zu wenig Ressourcen haben, um in die Informationstechnologie zu investieren. Eine durchschnittliche deutsche Universitätsklinik steckt etwa zwei oder zweieinhalb Umsatzprozente in die Digitalisierung, eine vergleichbare amerikanische Universitätsklinik sieben, acht oder sogar noch mehr.
Vision Zero: Hat das Krankenhauszukunftsgesetz – noch aus der Ära Merkel – nicht den erhofften Schub gebracht?
Prof. Dr. Heyo Kroemer: Dieses Gesetz ist in der Tat mit einem substanziellen Investment seitens des Staates einhergegangen, bestimmte Bereiche der Krankenhaus-Informationstechnologie sind dadurch deutlich nach vorne gebracht worden. Was meines Erachtens fehlt, ist ein systemischer Ansatz. Etliche Universitätskliniken haben ein Krankenhausinformationssystem, das 2027 ausläuft. An der Charité läuft ein Vergabeverfahren für ein Nachfolgesystem; in welche Richtung sich die anderen Kliniken entwickeln, das muss man sehen.
Vision Zero: Auch in der Regierung Scholz gab es Initiativen, die Digitalisierung voranzubringen, beispielsweise das Gesundheitsdatennutzungsgesetz.
Prof. Dr. Heyo Kroemer: Durch dieses Gesetz haben wir tatsächlich deutlich bessere Möglichkeiten, Gesundheitsdaten zu nutzen. Um das Potenzial auszuschöpfen, braucht man aber zunächst komplett digitalisierte Krankenhäuser. In so einem Umfeld lassen sich dann Daten generieren, die ihrerseits durch Künstliche Intelligenz analysiert und interpretiert werden können. Was diese Sequenz angeht, haben wir in manchen Bereichen Fortschritte gemacht. Bei der Integration aller Prozessabschnitte müssen wir noch deutlich besser werden.
Vision Zero: Wo auf einer Skala von eins bis zehn würden Sie Deutschland bei der Digitalisierung verorten, wenn zehn der wünschenswerte Zustand ist?
Prof. Dr. Heyo Kroemer: Ich würde uns bei einer Fünf einordnen. Lassen Sie uns noch etwas über Deutschland als Forschungsstandort sprechen. Angesichts der Situation in den USA könnte es für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wieder attraktiver werden, hier zu arbeiten.
Vision Zero: Was braucht es, um den Nachwuchs in Deutschland zu fördern?
Prof. Dr. Heyo Kroemer: Eine Kombination aus guten Arbeitsbedingungen und guten Inhalten. Bei den Inhalten sind wir ziemlich gut, aber unsere Infrastruktur ist in erheblichen Teilen dringend erneuerungsbedürftig. Insofern kann man nur hoffen, dass Budgets aus den Sondervermögen auch in die Krankenhauslandschaft beziehungsweise in die Universitätsmedizin fließen.
Vision Zero: Was wünschen Sie sich sonst noch von der neuen Bundesregierung?
Prof. Dr. Heyo Kroemer: Ich hoffe, dass die unbedingt notwendigen Reformen im Gesundheitssystem weiter vorangetrieben werden; dass man die Finanzierungsprobleme des Gesundheitssystems in den Griff kriegt und dass man endlich die massiven Herausforderungen sieht, vor denen das Gesundheitssystem angesichts des demografischen Wandels steht. Die manifestieren sich nicht nur durch den steigenden Anteil älterer Menschen, sondern auch durch den Mangel an nachfolgenden Generationen junger Menschen. Ein Drittel unserer Ärztinnen und Ärzte geht in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand, und wir werden sie nicht zur Gänze ersetzen können, weil der Nachwuchs fehlt. Ich wünsche mir, dass man diese Problematik endlich wahrnimmt und ernsthaft nach Lösungen sucht.
Quelle:
Vision Zero Magazin Nr.1/25