Anzeige

Alltagsfähigkeiten zu Hause mit Mobilitätsmessgeräten erfassen

Autor: Friederike Klein

Weil daheim alles anders ist, sollte dort auch anders gemessen werden. (Agenturfoto) Weil daheim alles anders ist, sollte dort auch anders gemessen werden. (Agenturfoto) © iStock/PixelsEffect
Anzeige

Wer die Beweglichkeit seines Patienten ausschließlich bei den regelmäßigen Kontrolluntersuchungen erfasst, kann die Funktionalität im Alltag nur abschätzen. Mobile Instrumente ermöglichen dagegen die Beurteilung auf der Basis von Alltagsdaten. Sie zu interpretieren ist aber nicht einfach.

Tragbar, am Körper fixiert oder in den Haushalt integriert: Es gibt inzwischen viele gut funktionierende mobile Geräte, um die Beweglichkeit im täglichen Leben zu messen. Idealerweise ergänzen sie die Untersuchungen beim Arzt und führen zu einem Gesamtbild. So verbesserten die im Alltag mit mobilen Instrumenten gewonnen Daten in Studien die Prädiktion von Stürzen und halfen dabei, ältere Patienten und solche nach Schlaganfall zu identifizieren, die ein hohes Sturzrisiko hatten.

Häufig jedoch klaffen die Ergebnisse von klinischer Untersuchung und nicht supervidiert gewonnenen Alltagsdaten so weit auseinander, dass eine integrierte Beurteilung unmöglich ist. Und das hat viele Gründe, wie Elke Warmerdam von der Klinik für Neurologie der Universitätsklinik Kiel und Kollegen anhand ihrer Analyse von zwölf Studien herausfanden. In den Arbeiten hatte man supervidierte und nicht supervidierte Mobilitätsuntersuchungen bei Menschen über 60 Jahre, Patienten mit Parkinson oder Multipler Sklerose verglichen.

Beste Leistung im Test versus Alltagsfähigkeiten

Das Erfassen der Beweglichkeit zu Hause mittels mobiler Instrumente basiert auf selbst initiierten Aktionen in einem variablen, durch viele Faktoren beeinflussten Umfeld. Die Bewegungen folgen einem Zweck, z.B. in die Küche gehen. Bei der klinischen Untersuchung kommt ein Patient dagegen unter sehr reduzierten Umweltbedingungen einer Aufforderung nach und der Fokus liegt auf der Bewegung selbst (vom Sitz in den Stand kommen, 6 m gehen). Dadurch versucht der Kranke stärker, seinen Körper zu kontrollieren als zu Hause.

Das häusliche Umfeld beeinflusst ebenfalls die Bewegungen, beispielsweise durch räumliche Enge, im Weg stehende Möbelstücke, die Beleuchtung, helfende Partner oder Sitzgelegenheiten, die sich sehr vom Stuhl für Aufstehtests in der Praxis bzw. Klinik unterscheiden. Und während zum Alltag Multitasking gehört, laufen klinische Untersuchungen maximal mit zwei Aufgaben gleichzeitig.

Mehr Motivation durch positives Feedback?

Nicht zuletzt begünstigen Auswertungsalgorithmen abweichende Ergebnisse. Meist im klinischen Kontext entwickelt und validiert werden sie den komplexeren Anforderungen im täglichen Leben kaum gerecht. Letztlich erfassen klinische, überwachte Untersuchungen eher die beste Leistung des Kranken, aber nicht seine Alltagsleistungsfähigkeit.

Ob die mobilen Geräte sich dafür eignen, den Therapieerfolg zu kontrollieren, lässt sich derzeit nicht sicher beurteilen. Schließlich muss man berücksichtigen, dass mobile Technologien das Verhalten verändern können, insbesondere wenn sie dem Patienten Ergebnisse rückmelden. Eine zunehmende Mobilität nach Beginn der Erfassung kann also auf einer wirksamen Therapie beruhen, aber genauso gut auf der größeren Motivation zu körperlicher Aktivität durch positives Feedback.

Wie Körper und Seele zu Hause mitwirken

Je nachdem, ob ein Untersucher anwesend ist oder nicht, variieren verschiedene psychische und physiologische Prozesse, die Einfluss auf die Mobilität nehmen. Dazu gehören:
  • Bewusstheit der Bewegungen
  • Motivation sich zu bewegen
  • Weißkitteleffekt (schlechtere Ergebnisse beim Arzt als zu Hause)
  • umgekehrter Weißkitteleffekt (bessere Ergebnisse beim Arzt als zu Hause)
  • Hawthorne-Effekt (Verhaltens­änderung, weil man unter Beobachtung ist)
  • Fatigue
  • Schmerzen
  • Stress

Die Autoren regen an, für die Entwicklung der nicht überwachten Mobilitätsuntersuchungen dieselben Instrumente und Algorithmen in beiden Umgebungen – beim Arzt wie zu Hause – zu nutzen. Außerdem empfehlen sie, die bei neurologischen Erkrankungen unterschiedlichen Bewegungsmus­ter zu berücksichtigen. Das Alter der Patienten und ihr allgemeiner Fitnesszustand spielen ebenfalls eine Rolle. Für die Vergleichbarkeit sei zudem wichtig, bestimmte Bewegungsepisoden (Umdrehen, aus dem Sitzen zum Stehen kommen etc.) beim Arzt und zu Hause pa­rallel zu erfassen. Ein weiterer Vorschlag der Wissenschaftler: für die klinische Untersuchung alltagsnähere Bedingungen vorsehen. Eine stärkere Betonung des Ziels von Aufgaben kann die Vergleichbarkeit von Bewegungen verbessern. So verschafft die Aufforderung an einen sitzenden Patienten, bis zur Tür zu gehen, einen besseren Eindruck davon, wie gut er vom Sitzen zum Stehen kommt. Denn da er sich auf das Ziel fokussiert, „vergisst“ er, das Aufstehen bewusst zu kontrollieren. Aber auch schon der Gang ins Wartezimmer oder das Eintreten ins Sprechzimmer geben Hinweise auf die Mobilität des Patienten im Alltag. Zudem könnten Bewegungsaufgaben in einem kleinen, möblierten Raum eher der Situation im eines voll ausgestatteten Haushalts des Patienten entsprechen als der Gang über den leeren Klinikflur.

Quelle: Warmerdam E et al. Lancet Neurol 2020; 19: 462-470; DOI: 10.1016/S1474-4422(19)30397-7