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Polypharmazie Bei älteren Diabetikern ist oft einiges nicht indiziert oder wird doppelt verordnet

Autor: Maria Weiß

Wichtig ist, dass Patienten immer im Besitz eines ausführlichen Medikamentenplans sind, den sie möglichst zu jedem Arztbesuch mitbringen sollten. Wichtig ist, dass Patienten immer im Besitz eines ausführlichen Medikamentenplans sind, den sie möglichst zu jedem Arztbesuch mitbringen sollten. © js-photo – stock.adobe.com
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Geriatrische Patienten mit Diabetes haben in der Regel nicht nur diese eine Erkrankung. Meist bekommen sie deshalb zahlreiche Medikamente. Aufgabe des Hausarztes ist es, regelmäßig zu prüfen, was überflüssig ist oder möglicherweise noch fehlt.

Zahlreiche Faktoren tragen zur gefährlichen Polypharmazie bei, erklärte PD Dr. ­Anke ­Bahrmann von der Abteilung für Klinische Geriatrie am Universitätsklinikum Heidelberg. Häufig werden im Laufe der Jahre immer wieder zusätzliche Medikamente verschrieben, die „alten“ aber ungeprüft weiterverordnet. Oft kommen auch wegen akuter Beschwerden Medikamente hinzu (z.B. Protonenpumpenhemmer) und werden später nicht wieder abgesetzt.

In einigen Fällen sind die therapeutischen Ziele (Blutdruck, Blutzuckersenkung etc.) bei älteren Patienten zu hoch angesetzt. Unübersichtlich wird das Ganze zudem bei Behandlung durch mehrere Ärzte verschiedener Fachrichtungen und nicht zuletzt durch zusätzliche Selbstmedikation.

Nicht selten kommt es zu regelrechten „Verschreibungskaskaden“: Ein Medikament löst eine Nebenwirkung aus, die dann mit einem weiteren Medikament behandelt wird. So treten beispielsweise unter der Einnahme von Amlodipin periphere Ödeme auf. Diese erfordern ein Diuretikum, das zu Schwindel führt. Nun kommt Betahistin zum Einsatz, was wiederum Kopfschmerzen auslöst, die mit Paracetamol behandelt werden.

Sehr hilfreich ist in solchen Fällen die hausärztliche S3-Leitlinie Multimedikation. Unter anderem wurden darin 13 typische Symptome von häufigen Arzneimittelunverträglichkeiten herausgearbeitet, nach denen Ärzte ihre Patienten regelmäßig fragen sollte.

Bei Multimedikation nach folgenden Symptomen fragen:

  • trockener Mund
  • Müdigkeit, Abgeschlagenheit, reduzierter Wachzustand
  • Schwäche
  • Bewegungsstörung, Tremor, Stürze
  • Verstopfung, Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, ungewollter Harnverlust
  • Hausausschlag, Juckreiz
  • Depressionen oder mangelndes Interesse an üblichen Aktivitäten
  • Verwirrtheit (zeitweise oder dauerhaft)
  • Halluzinationen
  • Angst und Aufregung
  • nachlassendes sexuelles Interesse
  • Schwindel
  • Ohrgeräusche

Ein Dilemma bleibt jedoch, dass man bei der Wahl der Medikamente häufig einen Spagat zwischen Über- und Unterversorgung machen muss: Die Unterversorgung bei älteren Menschen betrifft häufig kardioprotektive Medikamente wie ASS, Lipidsenker und Antihypertensiva oder auch neuere Antidiabetika wie SGLT2-Inhibitoren und GLP1-Rezeptoragonisten. Auch mit Laxanzien unter Opiattherapie, Betablockern nach Myo­kardinfarkt oder oralen Antikoagulanzien bei Vorhofflimmern sind Kollegen oft zu zögerlich. Bei etwa 30 % der geriatrischen Patienten unterbleibt aus nicht nachvollziehbaren Gründen eine leitliniengerechte Medikation, monierte Dr. Bahrmann.

Eine Überversorgung hingegen betrifft sehr häufig Antipsychotika und andere Psychopharmaka. Ältere Menschen bekommen besonders oft potenziell inadäquate Medikamente, bei über 90-Jährigen handelt es sich um 30 %. Zur Vermeidung von Fehlmedikationen gibt es heute sehr gute Tools wie z.B. FORTA (Fit for the Aged, online oder als App) oder die PRISCUS-Lis­te. Schaut man sich in FORTA die Antidiabetika an, werden Rosiglitazon und Sulfonylharnstoffe der 1. Generation als ungünstig bewertet und sind zu vermeiden. Von SGLT2-Hemmern könnten ältere gebrechliche Menschen dagegen möglicherweise besonders profitieren. So wurde in einer Studie für Empagliflozin gezeigt, dass bei dieser Patientengruppe auch kognitive Funktionen positiv beeinflusst werden.

Wichtig ist, dass Patienten immer im Besitz eines ausführlichen Medikamentenplans sind, den sie möglichst zu jedem Arztbesuch mitbringen sollten. Zusätzlich empfahl die Expertin, einmal im Jahr einen „Brown-Bag-Check“ zu machen, bei dem der Patient alle Medikamente, die er einnimmt, in einer Plastiktüte mitbringt.

Hier erlebe man immer wieder Überraschungen, was da so alles an nicht indizierten, doppelt verordneten oder selbst in der Apotheke besorgten Medikamenten zusammenkomme. Außerdem sollten bei Älteren einmal jährlich Nierenfunktion, Sturzneigung und kognitive Funktion geprüft werden, um die Medikation gegebenenfalls anzupassen.

Quelle: Kongressbericht Diabetes Herbsttagung 2022