Gesundheitssystem bald überfordert? „Bei Diabetes im Alter müssen wir massiv präventiv denken“

Autor: Birgit Maronde

Auch ältere Menschen können von den modernen Diabetestechnologien profitieren – vorausgesetzt, sie verfügen über die nötigen Fertigkeiten. Auch ältere Menschen können von den modernen Diabetestechnologien profitieren – vorausgesetzt, sie verfügen über die nötigen Fertigkeiten. © Halfpoint - stock.adobe.com

Der Diabeteszug ist in voller Fahrt – und es steht zu befürchten, dass er das deutsche Gesundheitssystem überrollt. An Bord: die alternde Boomergeneration. Mit ihr wird in den kommenden Jahrzehnten die Zahl der Diabetes­kranken deutlich steigen.

Schon heute sind mehr als 50 % der Menschen mit Diabetes mellitus über 65 Jahre alt. Die Prävalenz der Erkrankung liegt in der Gruppe der 70- bis 80-Jährigen bei etwa 22 % und steigt bei den noch Älteren weiter an. Häufig ist der Diabetes alter Menschen mit Demenz, Delir, Stürzen, Frakturen, Sarkopenie und Frailty assoziiert, erklärte der Internist und klinische Geriater Prof. Dr. Jürgen­ Bauer­ vom Agaplesion Bethanien Kranken­haus Heidelberg.

Den negativen prognostischen Einfluss der Stoffwechselstörung verdeutlicht eine Sekundäranalyse der ASPirin-Studie. Sie wurde mit 18.816 Patientinnen und Patienten im Alter über 70 Jahre durchgeführt. Keiner der Teilnehmenden wies initial eine kardio­vaskuläre Erkrankung, Demenz oder Behinderung auf. Verglich man diejenigen mit und ohne Diabetes, zeigte sich im Follow-up von im Mittel 6,9 Jahren für die Erkrankten ein um 73 % erhöhtes Risiko für eine körperliche Behinderung. Es gab jedoch deutliche Geschlechtsunterschiede: Für Männer lag die Hazard Ratio bei 1,08, für Frauen erreichte sie 2,23.

Die Gefahr, Lebensjahre ohne physische oder kognitive Behinderung zu verlieren, war um 39 % gesteigert. Diabeteskranke erlitten häufiger einen kognitiven Abbau (+ 13 %), mehr kardiovaskuläre Ereignisse (+ 25 %) und hatten eine erhöhte Mortalität (+ 45 %). Bei Frauen führte bereits ein Prä­diabetes zu einem signifikanten Verlust an Jahren ohne Behinderung und zu höherer Sterblichkeit.

Mangel an Pflegepersonal verschärft das Problem

Die Daten unterstreichen die hohe Relevanz des Diabetes im Alter, sagte Prof. Bauer und wies auf die gesellschaftlichen bzw. gesundheitspolitischen Konsequenzen hin. Aufgrund der demografischen Entwicklung und dem gleichzeitigen Mangel an Pflegepersonal und Therapeuten werde man eine adäquate Versorgung in Zukunft kaum sicherstellen können. Daher müsse man in den nächsten 30 bis 40 Jahren, d. h., solange die alte und hochbetagte Population noch anwachse, „massiv präventiv denken“.

Die Gruppe der geriatrischen Patientinnen und Patienten bezeichnete der Kollege als äußerst heterogen. Erforderlich sei daher eine individualisierte Diagnostik und Therapie. Die US-amerikanische Diabetesgesellschaft rät z. B. bei Hochbetagten regelmäßig ein geriatrisches Assessment durchzuführen, bei dem Mobilität, Kognition, Ernährungsstatus, Komorbiditäten, Komplikationen, soziale Faktoren und der Frailty-­Status geprüft werden. Prof. Bauer­ hält diesen Ansatz zwar in der Theorie für sinnvoll, praktisch aber für nicht umsetzbar. Natürlich muss man immer im Blick haben, wie sich ein alter Mensch verändert. Schließlich verläuft Altern sehr dynamisch. Innerhalb weniger Wochen kann etwa aus einer intakten Kognition ein kognitives Defizit werden.

Die Angehörigen in die Beurteilung einbinden

„Konzentrieren Sie sich auf Weniges“, so der Kollege und riet, sich auf die beiden Dimensionen Kognition und Mobilität/Gebrechlichkeit zu beschränken. Um die Kognition zu prüfen, kann man einfache Tools verwenden. Angehörige können Auskunft über potenzielle Veränderungen geben. „Tüddelig gibt’s nicht“, betonte Prof. Bauer. „Tüddelig ist beginnende Demenz in 99 % der Fälle.“ Altern bedeute in diesem Zusammenhang nicht etwa kognitive Einbußen, sondern verminderte Handlungsfähigkeit z. B. für eine Diabetestherapie.

Um die Mobilität in der täglichen Praxis abzuschätzen, lohnt sich der Blick auf das Gangbild – wie betritt ein alter Mensch das Sprechzimmer? Außerdem sollte man beobachten, wie er aus dem Stuhl aufsteht. Via Apps zur Selbsteinschätzung können Daten erfasst und für die ärztliche Betreuung genutzt werden.

Gemäß der DDG*-Praxisempfehlungen entscheidet der funktionelle Status von hochbetagten Diabeteskranken über das Therapieziel. Für Menschen, die noch selbstständig im Leben stehen, sollte das HbA1c maximal 7,5 % betragen. Bei leichter funktioneller Abhängigkeit – dies ist z. B. bei eingeschränktem Bewegungsradius oder Rollatorgebrauch der Fall – wird zu einem HbA1c 8 % oder niedriger als Zielwert geraten. Unter 8,5 % sind für funktionell stark abhängige Menschen anzustreben. 

Übertherapie führte zu mehr Klinikeinweisungen

Welche Folgen das Nichtbeachten solcher Ziele hat, verdeutlicht eine europäische Multizenterstudie mit 490 älteren multimorbiden Klinikpatientinnen und -patienten mit Typ-2-Diabetes. Sie hatten neben weiteren Medikamenten eine heute nicht mehr ganz aktuelle Therapie mit Insulin, Sulfonylharnstoffen oder Gliniden erhalten. Legte man auf Basis des Gesundheits- bzw. Funktionsstatus HbA1c-Zielwerte von < 7 %, < 7,5 % und < 8 % fest, standen 34 % der im Mittel 78 Jahre alten Teilnehmenden unter einer antidiabetischen Übertherapie. Zwar hatte dies innerhalb eines Jahres weder einen gesteigerten funktionellen Abbau noch vermehrte Klinikaufnahmen zur Folge. Die Mortalität war jedoch um 64 % erhöht.

Kein Platz für Multimorbide

Ergebnisse aus pharmakologischen Diabetesstudien gelten nicht zwangsläufig auch für alte Menschen. Obwohl sie einen Großteil der Erkrankten ausmachen und dementsprechend für hohe Verordnungszahlen sorgen, sind sie in den Untersuchungen deutlich unterrepräsentiert.

In den Jahren 2014 bis 2023 hatten rund 30 % der unter clinicaltrials.gov registrierten, randomisierten kontrollierten Arbeiten (RCT) mit einer Teilnehmerzahl über 100 ein Alterslimit. Das wichtigste Ausschlusskriterium waren jedoch Komorbiditäten. „Je geriatrischer der Patient, desto wahrscheinlicher der Studienausschluss“, fasste Prof. Bauer zusammen. Wie die systematische Analyse ebenfalls zeigte, gab es nur zwei Untersuchungen mit ausschließlichem Fokus auf ältere Patientinnen und Patienten.

Der Kollege räumte ein, dass es nicht möglich sei, das breite Spektrum der Menschen im Alter über 65 Jahren in RCT vollständig abzubilden. Er forderte, Studien aufzusetzen, die ein Funktions- und/oder Frailty-Assessment integrieren, um dadurch geeignete Teilnehmende zu identifizieren. Für das gesamte geriatrische Patientenkollektiv werde es aber wohl auch künftig kaum RCT geben. Große Bedeutung komme daher Beobachtungs- und Registerstudien zu.

Eine der potenziellen Ursachen dafür kann eine gestörte Appetitregulation mit verringerter Nahrungszufuhr sein, was Hypoglyk­ämien fördert. Die Gefahr steigt allerdings auch durch eine ökonomisch bedingte Unterversorgung mit Lebensmitteln – Stichwort Altersarmut – und durch körperliche Einschränkungen, die das Einkaufen oder Kochen erschweren. In einer Studie aus Kalifornien erhöhte Nahrungsunsicherheit das Risiko für eine behandlungsbedürftige Hypoglykämie auf das 4,4-Fache, berichtete der Geriater. Konkrete Ursachen waren ausgelassene Mahlzeiten, dürftige Essensportionen und ein zu großer Zeitabstand zwischen den Mahlzeiten. Prof. Bauer rechnet auch in Deutschland wegen steigender Altersarmut mit Konsequenzen für die Ernährung. Er warnte vor einem gefährlichen Circulus vitiosus von Malnutrition infolge schlechter Nahrungsversorgung und Sarkopenie, der vor allem für Menschen mit Diabetes Bedeutung habe. 

Blutzuckereinstellung verliert am Lebensende an Relevanz

Keine Rolle spielt das HbA1c gegen Ende des Lebens, wie eine Studie an 134 Diabeteskranken im Durchschnittsalter von fast 82 Jahren zeigt. 54,5 % waren gebrechlich, 42,5 % mangelernährt, 38 % lebten in einem Pflegeheim. Alle wurden mit Insulin behandelt, wobei man entweder einen uniformen HbA1c-Wert < 7 % oder gemäß dem funktionellen Status Werte < 7 %, < 7,5 % oder < 8 % anstrebte. Primärer Zielparameter war die mittels CGM** erfasste Zeit mit einem Blutzucker < 70 mg/dl. Bei einem uniformen HbA1c-Grenzwert ergab sich zwar in 19 % der Fälle eine Übertherapie und bei individualisierten Grenzwerten in 40 %. Die Zeitdauer in Hypoglyk­ämie war jedoch bei Übertherapierten und Nicht-Übertherapierten in etwa gleich.

Bei geriatrischen Patientinnen und Patienten am Lebensende verliert das HbA1c an Bedeutung, betonte Prof. Bauer. Der prädiktive Wert für die Vorhersage von Hypoglykämien ist dann gering.

Bei multimorbiden Diabeteskranken mit reduzierter Funktionalität sei daher die Blutglukoseeinstellung nicht mehr das Wichtigste, man müsse anders priorisieren. Dazu gehört, die Zahl der verordneten Arzneimittel im voraussichtlich letzten Lebensjahr zu reduzieren, hypoglykämiefördernede Medikamente zu vermeiden und sich auf andere kardio­vaskuläre Risikofaktoren zu fokussieren.

*  Deutsche Diabetes Gesellschaft
** continous glucose monitoring

Quelle: Kongressbericht - 20. Diabetologie-Update-Seminar