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Kontinuierliche Glukosemessung Kein Zusatznutzen? Experten widersprechen

diatec journal Autor: Dr. Jens Kröger, Prof. Dr. Norbert Hermanns, Prof. Dr. Lutz Heinemann

Die Barmer Ersatzkasse hat den Zusatznutzen von CGM-Systemen infrage gestellt. Unsere Autoren widersprechen und bemängeln die Methodik. Die Barmer Ersatzkasse hat den Zusatznutzen von CGM-Systemen infrage gestellt. Unsere Autoren widersprechen und bemängeln die Methodik. © Andrey Popov – stock.adobe.com
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Die Krankenkasse Barmer hat den Zusatznutzen von CGM-Systemen infrage gestellt. Unser Autorenteam kritisiert Methodik und Studienlage, zudem stellt es anderslautende Erfahrungen aus der Praxis gegenüber.

Die Barmer, als eine große deutsche Krankenkasse, hat aktuell einen Hilfsmittelreport und dazu eine entsprechende Pressemitteilung veröffentlicht. Ein Schwerpunktthema sind CGM-Systeme. Diese werden von der Barmer als eine wichtige Innovation im Hilfsmittelbereich betrachtet. Seit 2016 sind CGM-Systeme Teil der GKV-Leistung, da der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) dieser Methode einen bestimmten Nutzen unterstellt. Die Barmer hat nun durch eigene Analysen versucht, Informationen dazu zu bekommen, wo dieser Nutzen in der realen Versorgung sichtbar ist und was künftig wichtige Schritte sind.

In diesem Zusammenhang relevant ist bestimmt, dass die Produktgruppe, zu der die CGM-Systeme zählen, eine starke Kostensteigerung in den letzten Jahren erfahren hat: eine Steigerung der Patientenzahl von 2018 (1,28 Mio.) bis 2020 (1,45 Mio.), mit einer Kostensteigerung von insgesamt 418 Mio. Euro auf 855 Mio. Euro im Jahr 2020. Diese ist insbesondere getrieben durch die Verbrauchsmaterialien, hier liegen die jährlichen Kosten je Versicherten bei circa 2.400 Euro. Damit setzt sich die Kostensteigerung mit jeder neuen Person mit Diabetes fort, die auf die Messung mittels CGM-Systemen umgestellt wird. 

Datenauswertung mit beschränkten Möglichkeiten

Die Barmer hat nun eigene Abrechnungsdaten aus verschiedenen Leistungsbereichen anonymisiert ausgewertet, um eine erste gesundheitsökonomische Einschätzung zu ermöglichen. Da der Barmer keine Ergebnisse von Laboruntersuchungen (HbA1c-Werte) übermittelt werden, sind ihre Möglichkeiten allerdings eher beschränkt. Bei den Auswertungen erfolgt keine Auftrennung der Patienten nach Typ-1- oder Typ-2-Diabetes.

Bei der retrospektiven Beobachtungsstudie fokussiert der Barmer-Report auf die Auswertungen von Surrogatparametern. Die Beobachtungsstudie basiert auf der Annahme, dass der Einsatz von CGM-Systemen durch eine Vermeidung schwerer Hypoglykämien und Ketoazidosen zu einer Verminderung von Krankenhausaufenthalten mit der Hauptdiagnose Diabetes führen sollte. Zusätzlich nehmen die Berichtsautoren an, dass eine Reduktion des HbA1c-Werts als Ergebnis einer optimierten Einstellung im Therapieverlauf insgesamt zu weniger hausärztlichen Kontakten führen sollte, da der Person mit Diabetes das Management ihrer Erkrankung besser gelingt. Beide Surrogate sollen daher einen Hinweis darauf geben, ob der Einsatz eines CGM-Systems einen direkten Nutzen und direkte Auswirkungen in Gestalt einer Verminderung der Leistungsinanspruchnahme hat.

Methodisch wurde so vorgegangen, dass die Barmer-Versicherten mit Dia­betes, die im Jahr 2019 eine Versorgung mit einem CGM-System erhalten haben, als Interventionsgruppe betrachtet werden. Für diese wird mittels Propensity-Score-Matched-Pair-Algorithmus eine gleich große Kontrollgruppe von Versicherten mit Diabetes gebildet, die bis 2020 keine kontinuierliche interstitielle Glukosemessung durchgeführt und die im Jahr 2018 vergleichbare Alters-, Erkrankungs- und Kostenprofile aufgewiesen haben. Insgesamt sind jeweils etwa 12.000 Versicherte der Barmer in der Interventions- und in der Kontrollgruppe enthalten.

Barmer-Report: Blick auf die Krankenhauskosten

Die Interpretation dieser Daten im Barmer-Report lautet: „Die Krankenhauskosten mit der stationären Hauptdiagnose Diabetes sanken 2020 in der Gruppe der mit CGM-Systemen versorgten Versicherten auf das Niveau des Jahres 2018. In der Kontrollgruppe bleiben diese durchschnittlichen Kosten über die drei Jahre nahezu identisch. Allerdings hatten nur ca. zehn Prozent der Versicherten in beiden Gruppen überhaupt eine stationäre Behandlung. Es bleibt aber für die Interventionsgruppe ein gewisser geringer Effekt verminderter Krankenhausbehandlungen für Diabetes sichtbar.“

Da für diese Auswertung eher wenige Patientendaten verwendet werden konnten und von diesen nur wenige eine stationäre Behandlung benötigten, stellt sich die Frage nach der Belastbarkeit der Aussagen aus solchen Auswertungen. Auch ist gerade bei den Versorgungsdaten bzgl. Krankenhausbehandlungen im Jahre 2020 die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Bestimmungen für Krankenhausbehandlungen nicht völlig außer Acht zu lassen, sodass man fragen kann, ob man diesen Zeitraum so einfach mit den beiden vorherigen Jahren vergleichen kann. Zusätzlich bleibt völlig unklar, warum die mittleren Krankenhauskosten bei den CGM-Nutzern im Jahre 2019 von 279 Euro auf 400 Euro anstiegen, um dann wieder auf das Niveau der Krankenhauskosten des Jahres 2018 zurückzugehen.

Im gleichen Sinne gilt es, die Auswertung zur Anzahl der Arztkontakte als Surrogatparameter für einen unproblematischeren Krankheitsverlauf kritisch zu sehen: „[Diese] blieb in der Interventionsgruppe im Jahr nach der Versorgung mit einem CGM-Gerät auf einem konstanten Niveau, während sie in der Kontrollgruppe zurückging.“

Weniger Arztkontakte, höherer Patientennutzen?

Nach Auffassung der Autoren des Barmer-Reports lässt sich auch hieraus kein Hinweis auf einen Patientennutzen ableiten, der etwa durch ein verbessertes Krankheitsmanagement der Diabeteserkrankung weniger Arztbesuche erforderlich machen würde. Hier stellt sich die generelle Frage, ob man eine geringere Frequenz von Arztkontakten automatisch mit einem höheren Patientennutzen gleichsetzen kann. Ebenso könnte es auch sein, dass im Jahre 2020 aufgrund der Coronasituation Arztkontakte häufiger online stattgefunden haben und Online-Arztkontakte auf der Grundlage von CGM-Daten qualitativ besser waren  als die klassische Besprechung von analogen Blutzuckertagebüchern, was eher einen höheren Patientennutzen nahelegen würde. 

Auch sollte man bei der Interpretation dieser Ergebnisse bedenken, dass der G-BA seinerzeit die Erstattung von CGM nicht für jedermann freigegeben hat: Patienten, die ihre Therapieziele nicht erreichen, regelmäßige Hypoglykämien haben oder besonderen Gefährdungen durch Glukoseentgleisungen ausgesetzt sind. Daher verwundert es nicht, wenn in der klinischen Versorgung eher Patienten mit einem „komplizierteren“ Diabetesverlauf CGM erhalten haben. Dass sich diese Menschen in der Intensität der Versorgung im Hinblick auf Hospitalisierung und Frequenz der Arztbesuche von denen unterscheiden, welche eher unkomplizierte Verläufe haben und daher nicht „eligble“ (berechtigt) für CGM-Systeme waren, überrascht nicht. Die Tatsache, dass die Frequenz von Arztkontakten und Krankenhauskosten in der CGM-Gruppe bereits ein Jahr vor Initiierung von CGM erhöht waren (also 2018), scheint eher zu belegen, dass diese Gruppe einen komplizierten Verlauf der Diabeteserkrankung hatte. Ob man einen solchen Unterschied in der Eligibility für CGM (der sog. Selektionsbias) mit Propensity Score Matching befriedigend kontrollieren kann, darf deutlich bezweifelt werden. 

Neuere Studien wurden nicht berücksichtigt

In dem Report wird auch zu Recht die kritische Frage nach der „Evidenzlage in der Hilfsmittelversorgung“ gestellt. Die für die Zulassung notwendige CE-Kennzeichnung neuer CGM-Systeme liefert hier, trotz der neuen Medical Device Regulation (MDR) und deren Umsetzung in nationales Recht, eher wenig Informationen. Der G-BA hat bislang auf eine Aktualisierung des Beschlusses auf Basis einer erneuten Nutzenbewertung unter Einbeziehung aktueller Studien und im Hinblick auf die technische Entwicklung der CGM-Systeme verzichtet. Der Barmer-Report geht auch nur recht kurz auf aktuelle „Studienergebnisse zu CGM-Systemen“ ein, wobei nur zwei mehr zusammenfassende Betrachtungen präsentiert werden, die aber den Wissensstand von vor drei Jahren korrekt wiedergeben.

In den letzten Jahren hat es aber eine ganze Reihe von guten klinischen Studien mit CGM-Systemen (meistens RCT) gegeben, deren Ergebnisse (auch im Blick auf harte Endpunkte) in hochrangigen medizinischen Journalen publiziert wurden, die einen klaren Nutzen von CGM-Systemen belegen – auch bei Patienten mit Typ-2-Diabetes. Dies gilt für die Verbesserung in der Glukosekontrolle (Absenkung des HbA1c) als auch für die Vermeidung von Hypoglykämien bei verschiedenen Therapieformen und Diabetestypen. Daher würde man erwarten, dass die Belege für den Zusatznutzen heute eindeutiger sind. Somit kann von einer schwachen Evidenzlage bzgl. CGM-Nutzen keine Rede sein. Auch gibt es Belege, dass die Patientenzufriedenheit, „Diabetes Disstress“, Angst vor Hypoglykämien sowie die Erleichterung zur Teilhabe an normalen Aktivitäten – insbesondere bei Kindern – durch CGM verbessert wird. Von einem Barmer-Report sollte man erwarten, dass die aktuelle Evidenzlage dargestellt wird, dies ist aber nicht geschehen.

Datenlage zur Versorgung muss verbessert werden

Das kritische Fazit in dem Barmer-Report zur Kosten-Nutzen-Bewertung von CGM-Systemen verwundert nicht, stimmt aber nicht, wie darin auch ausgeführt wird, mit der Bewertung von Menschen mit Diabetes überein und reflektiert nicht die Erfahrung vieler behandelnder Diabetes-Teams. Aspekte wie das Ermöglichen von sozialer Teilhabe (z.B. eine Berufsausübung trotz Hypoglykämie-Gefährdung oder Teilhabe von Kindern mit Diabetes an den Aktivitäten der Peergroup, Entlastung von Eltern von Kindern mit Diabetes) tragen in der Praxis sehr zur Indikationsstellung bei. Die Effekte dieser Aspekte sollte man daher sicherlich in zukünftigen Studien besser erfassen. Wir teilen die Auffassung der Autoren des Barmer-Reports, dass die Datenlage über die reale Versorgung in Deutschland verbessert werden sollte.

Zusammenfassend gilt es zu sagen, dass die Barmer – ebenso wie eine Reihe anderer Krankenkassen – eine Zeit lang die Anforderungen an die Evidenz bei CGM-Systemen (insbesondere bei iscCGM-Systemen) eher niedrig gehalten hat. Vielleicht deshalb, da ihnen dies aus Kostengründen gut zupasskam. Dabei war die Evidenzlage bezüglich der HbA1c-Absenkung bei den iscCGM-Systemen alles andere als eindeutig. Sowohl bei Patienten mit Typ-2-Diabetes als auch bei solchen mit Typ-1-Diabetes konnte in RCT-Studien kein HbA1c-Effekt demonstriert werden. Zwar konnten biochemische Hypoglykämien reduziert werden, aber keine klinischen. Somit bleibt beim Lesen des Barmer-Reports der Eindruck, dass, wenn ihnen die (Kosten-)Entwicklung bei einer bestimmten Produktgruppe nicht passen, die Kassen plötzlich wieder die Evidenz entdecken und nach einer weitreichenden Änderung bei der Gesetzeslage rufen. Gleichzeitig zahlt z.B. diese Kasse ungeachtet mangelnder Evidenz auch die Kosten für Homöopathie.

Mit CGM-Schulungen die Kosten senken

Klar ist, messen um des Messens willen mit CGM-Systemen macht keinen Sinn! Dementsprechend sollten die Kassen auch nicht nur die Hardware und technische Schulung bezahlen (also Geld, das an die Hersteller geht), sondern auch eine Schulung zum optimalen, individualisierten Einsatz dieser wichtigen diagnostischen Option (Honorar, das an die betreuenden Diabetes-Praxen geht)! Das wird seit Jahren von den Krankenkassenverbänden mit Verweis auf die Hersteller verhindert. Solange die Kosten für geeignete Schulungsprogramme für CGM-Systeme (SPECTRUM oder flash) nicht übernommen werden, darf es nicht verwundern, wenn die Nutzer diese Produkte nicht immer optimal einsetzen.