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Corona-Pandemie: Wen beatmen, wenn die Geräte knapp werden?

Autor: Kathrin Strobel

Klinisch-ethische Empfehlungen für die Priorisierungsentscheidungen im Kontext der COVID-19-Pandemie. Klinisch-ethische Empfehlungen für die Priorisierungsentscheidungen im Kontext der COVID-19-Pandemie. © iStock/feellife, ugurhan
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Möglicherweise stehen in Deutschland bald nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Ressourcen für alle Patienten zur Verfügung. Dann kann es nötig werden, zu entscheiden, wen man vorrangig behandelt. Nach welchen Kriterien dies geschehen sollte, haben mehrere Fachgesellschaften gemeinsam erarbeitet.

In der Regel treffen Ärzte Entscheidungen über die medizinische Versorgung patientenzentriert. Bei knappen Mitteln kommt zusätzlich eine überindividuelle Perspektive hinzu, heißt es in der Veröffentlichung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und weiterer Gesellschaften. Dann ist zu entscheiden, welche intensivpflichtigen Patienten behandelt werden – und welche nicht –, damit möglichst viele Menschen eine nutzbringende medizinische Versorgung erhalten.

Die juristische Verantwortung tragen die jeweiligen Akteure vor Ort

Zwar darf man laut Verfassungsrecht Menschenleben nicht gegeneinander abwägen. Doch werden die Mittel knapp, kommt man nicht umhin, diese verantwortungsbewusst zuzuteilen und einzusetzen, heißt es in der Publikation. Grundlage für die Empfehlungen sind dabei die aus Autorensicht am ehesten begründbaren ethischen Grundsätze. Eine abschließende juristische Einordnung ist darin nicht enthalten. Die Autoren betonen, dass die Verantwortung für entsprechende Entscheidungen bei den Akteuren vor Ort, d.h. in der jeweiligen Klinik, liegt.

Eine solche Priorisierung erfordert transparente, medizinisch und ethisch gut begründete Kriterien, allen voran die klinische Erfolgsaussicht: Vorrangig erhalten jene Patienten eine Therapie, die dadurch eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. eine bessere Prognose erreichen. Das gilt nicht nur für ­COVID-19-Patienten, stellen die Gesellschaften klar, sondern für alle, die eine intensivmedizinische Behandlung benötigen – auch unabhängig davon, auf welcher Station sie versorgt werden. Das Alter der Betroffenen oder soziale Kriterien sind als alleinige Kriterien für eine Priorisierung nicht zulässig. Vielmehr sollten folgende Informationen in die Entscheidungsfindung mit einfließen:
  • aktueller klinischer Zustand des Patienten
  • Patientenwillen (aktuell/vorausverfügt/zuvor mündlich geäußert/mutmaßlich)
  • Komorbiditäten
  • Allgemeinzustand
  • Laborparameter
  • prognostisch relevante Scores (z.B. SOFA)
Die Entscheidungsfindung sollte möglichst nach dem Mehraugenprinzip erfolgen, und zwar von zwei intensivmedizinisch erfahrenen Ärzten, einem Vertreter aus der Pflege sowie ggf. weiteren Fachvertretern. Oberstes Ziel ist der Konsens. Deshalb empfiehlt es sich, im Voraus festzulegen, wie im Falle eines Dissens zu verfahren ist. Das Ergebnis sollte man den Patienten, Angehörigen und ggf. den juristischen Stellvertretern transparent kommunizieren und die Entscheidung sachgerecht dokumentieren. Eine geeignete Dokumentationshilfe sowie weitere nützliche Dokumente findet sich hier. Doch wie entscheidet man nun, wer bevorzugt auf die Intensivstation aufzunehmen ist? In einem ersten Schritt muss man abklären, ob eine intensivmedizinische Behandlung überhaupt notwendig ist. Liegt kein respiratorisches oder hämodynamisches Versagen vor, kommt der Patient auf die Allgemeinstation. Im anderen Fall sind nun in einem zweiten Schritt die Erfolgsaussichten einer Intensivtherapie abzuschätzen. Dabei sollten folgende Parameter, idealerweise unter Einbeziehung von Erkenntnissen des Hausarztes, in die Beurteilung einfließen:
  • Schweregrad der aktuellen Erkrankung
  • begleitendes akutes Organversagen?
  • sobald verfügbar: prognostische Marker für COVID-19-Patienten
  • schwere Komorbiditäten (wie chronisches Organversagen oder schwere Organdysfunktionen, weit fortgeschrittene generalisierte neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen, weit fortgeschrittene Krebserkrankung, schwere und irreversible Immunschwäche, Multimorbidität)
  • allgemeiner Gesundheitsstatus
Besteht auf Basis dieser Parameter keine Erfolgsaussicht, kann man von einer Intensivbehandlung absehen und eine adäquate Versorgung einschließlich palliativer Maßnahmen einleiten. Andernfalls folgt Schritt 3 der Beurteilung, in dem zunächst geprüft wird, ob der Patient bzw. sein rechtlicher Vertreter in eine Intensivtherapie einwilligt. Im Idealfall wird diese Frage bereits vor der Einweisung ins Krankenhaus z.B. vom Hausarzt geklärt und dokumentiert. Wenn das Einverständnis vorliegt, kann in einem vierten und letzten Schritt die Priorisierung erfolgen:
  • nach Einschätzung der Erfolgsaussichten der Intensivtherapie
  • im Hinblick auf ein realistisches patientenzentriertes Behandlungsziel
  • im Vergleich zur Erfolgsaussicht der Intensivtherapie für andere Patienten
  • unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Kapazitäten
Kommt man auf Basis dieser Kriterien zu dem Schluss, dass der Patient nicht vorrangig behandelt werden soll, erhält er eine adäquate Versorgung inklusive palliativer Maßnahmen. Im anderen Fall kann man ihn einer intensivmedizinischen Behandlung zuführen. Ähnliche Überlegungen müssen angestellt werden, wenn sich der Patient bereits in intensivmedizinischer Therapie befindet. Gerade bei einem Mangel an Ressourcen muss man die Indikation für die Fortführung der Behandlung wiederholt kritisch überprüfen, erinnern die Autoren. Sind Atmung und Kreislauf stabilisiert und ist es möglich, den Patienten zu verlegen oder von der Intensivstation zu entlassen, so sollte dies auch geschehen. Widerspricht die Fortsetzung der Intensivtherapie dem Patientenwillen, kann das im Voraus definierte Behandlungsziel realistisch nicht mehr erreicht werden, ist der Behandlungsversuch gescheitert oder erleidet der Patient ein fortschreitendes Multiorganversagen, sollte man ihn außerhalb der Intensivstation weiterbehandeln und palliativ versorgen.

Kein Fall für die Intensivtherapie

Generell nicht indiziert ist die intensivmedizinische Behandlung, wenn
  • der Sterbeprozess bereits begonnen hat und sich nicht mehr aufhalten lässt
  • die Behandlung als aussichtslos eingeschätzt wird
  • der Patient dauerhaft an die Intensivstation gebunden wäre, um zu überleben
  • der Patient die Intensivtherapie ablehnt

Wenn sich die Atemfunktion und/oder die Hämodynamik gebessert hat, eine weitere intensivmedizinische Behandlung erforderlich ist und das vordefinierte Therapieziel weiterhin realistisch erscheint, nimmt der Patient an der Priorisierung teil. Dann ist unter Berücksichtigung der vorhandenen Mittel zu prüfen, ob man den Betroffenen im Vergleich zu anderen Patienten mit intensivmedizinischem Bedarf vorrangig behandeln soll. Diese Entscheidung ist u.a. abhängig von der Organfunktion, dem Verlauf der Grunderkrankung sowie dem bisherigen Ansprechen auf die Behandlung. Auf ähnliche Weise muss auch in der Notaufnahme priorisiert werden, wenn keine intensivmedizinischen Ressourcen mehr zur Verfügung stehen, die Notaufnahme aber ggf. noch Kapazitäten hat.

Quelle: „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie – Klinisch-ethische Empfehlungen“, www.divi.de (Stand: 25.03.2020)

„Entscheidungsfindung bei nicht ausreichenden Intensiv-Ressourcen“ – zur Empfehlung der DIVI. „Entscheidungsfindung bei nicht ausreichenden Intensiv-Ressourcen“ – zur Empfehlung der DIVI. © DIVI