Anzeige

Hirntoddiagnostik – diese sechs Phänomene können in die Irre führen

Autor: Dr. Anja Braunwarth

Kein Blutfluss mehr im Gehirn: Im Zweifel muss der Hirntod mittels einer Perfusionsszintigraphie gesichert werden. Kein Blutfluss mehr im Gehirn: Im Zweifel muss der Hirntod mittels einer Perfusionsszintigraphie gesichert werden. © wikimedia/Drahreg01 (CC BY-SA 3.0)
Anzeige

Für die Hirntoddiagnostik gibt es klare Regeln, die von der Bundesärztekammer vorgegeben sind. Dennoch kann der Nachweis eines irreversiblen Hirnfunktionsausfalls selbst erfahrenen Ärzten Schwierigkeiten bereiten.

Die Diagnose Hirntod bedeutet, dass bei einem Patienten die Gesamtfunktionen von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm erloschen sind. Um diesen totalen Funktionsausfall festzustellen, müssen bei der klinischen Untersuchung folgende Kriterien erfüllt sein:

  • Bewusstlosigkeit (Koma)
  • Lichtstarre beider mittel- bis maximal weiten Pupillen (ohne Mydriatikum)
  • okulozephaler bzw. vestibulookulärer Reflex bds. erloschen
  • beidseitiges Fehlen des Korneal­reflexes
  • Fehlen von Reaktionen auf Schmerzreize bds. im Trigeminusbereich und von zerebralen Reaktionen auf Schmerzreize außerhalb des Trigeminusbereichs
  • Fehlen von Pharyngeal- und Trachealreflex
  • Ausfall der Spontanatmung

Je nach Muster der Hirnschädigung folgen im weiteren Verlauf erneute klinische Prüfungen oder ergänzende Untersuchungen nach einem festen Algorithmus, um die Irreversibilität sicher nachzuweisen. Eine Bildgebung ist dabei nicht zwingend vorgeschrieben.

Bewusstsein ohne Reaktion

Beim Koma handelt es sich definitionsgemäß um eine komplette Reaktionslosigkeit mit dem Anschein fehlender Wahrnehmung. Es gibt aber durchaus Zustände mit erhaltenem Bewusstsein trotz fehlender oder nur minimaler Reaktion. Das kann z.B. bei ausgedehnten pontomedullären Läsionen mit erhaltenen Funktionen von Aufsteigendem Retikulärem Aktivierungssystem (ARAS), Thalamus und Großhirn der Fall sein. Das klassische komplette Locked-in-Syndrom kann man daran erkennen, dass meist Lidbewegungen und Pupillenreaktionen vorhanden sind. Fallen alle Hirnstammreflexe aus, kommt es zum apnoeischen, areaktiven Locked-in-Syndrom. Im Syndrom der unresponsiven Wachheit, dem Wachkoma, gibt es vegetative Zeichen, die Patienten haben die Augen geöffnet, der Schlaf-Wach-Rhythmus bleibt erhalten. Beim minimalen Bewusstseinszustand wenden die Kranken evtl. den Blick zu, versuchen, Laute zu äußern und bieten gezielte motorische Antwortreaktionen.
Also alles ganz einfach? Nein, denn es lauern doch Fallstricke, von denen Neurologe Professor Dr. Uwe Walter von der Universitätsmedizin Rostock einige vorstellte.

1. „Hirntod-Mimics“

Verschiedene zentrale Erkrankungen können eine irreversible Schädigung „vortäuschen“. In der Regel sind sie aber durch die neurologische Anamnese und den Kontext bekannt.

Hirntod-Mimics

Diese Erkrankungen können zu hirntodähnlichen Symptomen führen
  • Enzephalitiden (v.a. des Hirnstamms)
  • passagere Hirndruckerhöhung
  • schweres Guillain-Barré-Syndrom
  • schwere dekompensierte Myasthenia gravis
  • vollständiges Locked-in-Syndrom
  • Syndrom der unresponsiven Wachheit („Wachkoma“)
  • minimaler Bewusstseinszustand (minimally conscious state, MCS)
Die Verantwortung für die klinische Einordnung trägt der an der Hirntoddiagnostik beteiligte Neuromediziner. Im Zweifel sollte man nicht zögern, bildgebende oder andere apparative diagnostische Maßnahmen (EEG, Doppler) durchzuführen.

2. Unterkühlung/Sedierung

Bei einer Körperkerntemperatur ≤ 35 °C riet Prof. Walter zu prüfen, ob eventuell zentral sedierende Medikamente Einfluss auf den Zustand haben. Das gelingt z.B. durch Gabe von Antidota, Serumkonzentrationsmessungen oder Untersuchung der Hirndurchblutung. Temperaturen unter 32,3 °C machen eine klinische Hirntodiagnostik unmöglich, da sich dann die Hirnstammreflexe nur unzuverlässig auslösen lassen. Ziel ist daher, beim Patienten eine Temperatur > 35 °C zu erreichen, im Einzelfall können 33,0 °C genügen. Danach wartet man idealerweise noch 24–72 Stunden mit der weiteren Abklärung.

3. Endokrine/metabolische Ursachen

Dazu gehören Hyper- und Hypoglykämie, thyreotoxische Krise, hepatisches oder urämisches Koma, Elektrolytentgleisungen (Addison-Krise), Sepsis sowie eine CO₂-Narkose. All diese Zustände lassen sich recht einfach über Laborparameter oder die Blutgasanalyse erkennen. Bleibt der Versuch, die Störung auszugleichen, erfolglos und erhärtet sich der Hirntodverdacht, gibt die zerebrale Zirkulationsmessung letzte Gewissheit.

4. Hirnstammreflexe

Die (nicht vorhandene) Pupillenreaktion führt ab und zu in die Irre, z.B. wenn bei vorhandenem Glas­auge nur eine Pupille weit und lichtstarr ist. Aber auch Seitengleichheit kann trügen, etwa bei einem Patienten mit Augenerkrankung und Pupillenstarre. Bei HWS-Verletzungen versagt u.U. die klassische Prüfung des okulozephalen Reflexes, alternativ lässt er sich über eine Kaltspülung (4 °C) des Gehörgangs auslösen. „Bitte werfen Sie vorher einen Blick in das Ohr“, mahnte Prof. Walter. Außerdem sollten zwischen dem Test der linken und rechte Seite 5 Minuten vergehen. Eine einseitige periphere Fazialisparese kann den Kornealreflex beeinträchtigen, eine beidseitige die trigeminale Schmerzreaktion. Und der Pharyngealreflex muss immer auf beiden Seiten beurteilt werden.

5. Adaptation an chronische Hyperkapnie

Diese Anpassungsreaktion, die den Apnoetest unbrauchbar macht, kann z.B. bei einer COPD im fortgeschrittenen Stadium oder einem Obesitas-Hyperventilationssyndrom vorliegen. Eine aktuelle Blutgasanalyse zeigt dann ggf. eine posthyperkapnische Alkalose nach forcierter Beatmung. Doch Vorsicht bei der Interpretation: Der arterielle Kohlendioxidpartialdruck (paCO₂) hängt mit der Temperatur zusammen, die man daher am Messgerät mit eingeben muss. Gibt es diese Möglichkeit nicht, hilft nur die manuelle Berechnung nach Nomogramm.

6. Eindeutige spinale Phänomene

Sie sind eher langsam, kurz andauernd, von außen provoziert und laufen stereotyp ab. Bei rascher Triggerfolge habituieren sie, bei gemäßigter dagegen nicht. „Solche Phänomene gehören im Protokoll vermerkt“, betonte Prof. Walter. Stereotyp auslösbare isolierte Kopfbewegungen oder die langsam alternierende, spontan oder auf einen Reiz folgende Kopfwendung gelten als nicht eindeutige spinale Phänomene und erfordern den Nachweis des zerebralen Zirkulationsstillstandes. Gibt es einen trachealen Hustenreflex, darf die Hirntoddiagnose nicht gestellt werden.

Kongressbericht: Arbeitstagung NeuroIntensivMedizin 2020