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ICD-11: Trennungsängste, selektiver Mutismus und Persönlichkeitsstörungen

Autor: Maria Fett

Ab 2019 sollen Persönlichkeitsstörungen nicht mehr kategorial, sondern dimensional diagnostiziert werden. Ab 2019 sollen Persönlichkeitsstörungen nicht mehr kategorial, sondern dimensional diagnostiziert werden. © iStock/FilippoBacci
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Noch in diesem Jahr soll sie verabschiedet werden, 2019 gilt sie dann für alle: die elfte Revision des WHO-Klassifikationssystems ICD. Neben Trennungsängsten und selektivem Mutismus als neuen Angsterkrankungen bildet man Persönlichkeitsstörungen nun dimensional ab.

Um eine Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, stehen mittlerweile drei Modelle zur Verfügung. Während die ICD-10-GM* besonders Vertragsärzte bindet, stützt man sich in Forschungsinstituten meist auf das DSM-5** der American Psychiatric Association (APA). Beiden gemein ist die kategoriale Klassifikation, anhand derer Psychiater und Psychotherapeuten ihre Diagnosen stellen. Damit ist ab kommendem Jahr Schluss. In Studien wurde wiederholt gezeigt, dass zwischen gesund und krank bzw. normal und abnormal kaum klare Grenzen existieren, man vielmehr von kontinuierlichen Übergängen ausgehen sollte. Deshalb erfasst das DSM-5-basierte Hybridmodell als dritte Alternative die Persönlichkeit bereits dimensional.

Probleme in vier Bereichen zeigen Störung künftig an

Die für 2019 angekündigte Neuauflage der ICD orientiert sich stark an diesem Modell, erklärte Professor Dr. Sabine Herpertz­ von der Klinik für Allgemeine Psychiatrie der Uniklinik Heidelberg. Psychiater messen die Schwere einer gestörten Persönlichkeit künftig daran, welche Schwierigkeiten ihre Patienten in vier Lebensbereichen aufweisen:

  • Funktionsbeeinträchtigung des Selbst (u.a. Selbstbild, -wert)
  • Funktionsbeeinträchtigung interpersoneller Beziehungen (z.B. Empathie, Interesse)
  • Manifestationen bzgl. Emotionalität, Kognition und Verhalten
  • psychosoziale Auswirkungen im privaten und beruflichen Kontext

Zudem hält das Fünf-Faktoren-Modell Einzug in die Diagnostik. Je nachdem, wie ausgeprägt die Domänen negative Affektivität, Dis­tanziertheit, Dissozialität, Enthemmung und Zwanghaftigkeit sind, lassen sich so Profile der Persönlichkeit zeichnen. Unangetastet bleibt die kategoriale Borderline-Klassifikation. Deren Kriterien stützen sich auf die aktuelle empirische Datenlage, führt Prof. Herpertz in ihrem Skript zum Vortrag aus.

Mit dem ICD-Update finden sich außerdem zwei weitere Angsterkrankungen in der taxonomischen Schublade wieder. Neben der Trennungsangststörung zählt künftig der selektive Mutismus zu den pathologischen Ängsten. Knapp fünf Jahre nach dem Einzug ins DSM-5 darf man auch hierzulande die einstigen „Kinderkrankheiten“ diagnostizieren. Höchste Zeit, findet Professor Dr. Dr. Katharina­ Domschke, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg: „Circa 50 % der störungswürdigen Trennungsängste manifestieren sich erst im Erwachsenenalter. Für die Praxis ist das neu.“

Die Expertin rät ihren Kollegen, künftig genauer zu prüfen, ob nicht vielleicht eine Trennungs­angststörung hinter den Symptomen steckt. „Aber schauen Sie kritisch hin! Aktuelle Fragebögen formulieren die Kriterien sehr schwammig. Damit wird es schwierig, die Krankheit von generalisierten Ängsten oder einer dependenten Persönlichkeitsstörung abzugrenzen.“ Die Fragen beziehen sich hauptsächlich darauf, nicht allein sein zu können, führte Prof. Domschke aus (s. Kasten). So bekämen Patienten nicht etwa aus Furcht, ihren Liebsten könnte etwas passieren, eine Panikattacke. „Sie bekommen Panik, weil sie allein sind.“

In 30 Ehejahren noch nie allein gewesen?

Eine Trennungsangststörung kennzeichnet sich durch eine anhaltende, exzessive und entwicklungspsychologisch inadäquate Angst, von wichtigen Bezugspersonen getrennt zu sein. Der Screen for Adult Anxiety Related Disorders (SCAARED­) ist einer von zwei englischsprachigen Fragebögen, die Psychiater zur Diagnostik verwenden können. Er umfasst 44 Aussagen und detektiert Angststörungen allgemein. Sieben Äußerungen beziehen sich konkret auf das neue Störungsbild (z.B. „Ich werde nervös, wenn ich nicht zu Hause schlafe“). Welche Patienten könnten Ihnen gegenübersitzen? Beispielsweise junge Männer, die gerade von Daheim ausgezogen sind und plötzlich Panik bekommen. Oder Paare, die Ihnen voller Stolz berichten, in 30 Ehejahren keine einzige Nacht allein gewesen zu sein. „Das mag ein Zeichen von Liebe sein – oder von Trennungsängsten“, meinte Prof. Domschke augenzwinkernd.

* International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 10, German Modification
** Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders

Quelle: 8. Psychiatrie-Update-Seminar