Im Leistungssport leiden mehr Männer unter Essstörungen als Frauen
Unter den Elitesportlern stellen auffälliges Essverhalten und handfeste Essstörungen mit die häufigsten psychischen Erkrankungen dar. Von der zielgerichteten Diät vor dem Saisonstart oder einem einzelnen Wettkampf über eine subklinische Essstörung bis hin zur Anorexia nervosa oder einer manifesten Bulimie ist alles drin. Bislang wird das Problem aber vielfach als ein typisch weibliches angesehen, schreiben Yannis Karrer von der Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universitätsklinik Zürich und seine Kollegen.
Jugendliche am Beginn ihrer Karriere sind seltener betroffen
Dabei sei eher das Gegenteil der Fall: Verglichen mit der Allgemeinbevölkerung lässt sich bei männlichen Elitesportlern häufiger ein gestörtes Essverhalten finden als bei den Frauen. Die Wissenschaftler wollten das wenige verfügbare Wissen zum Thema „Männliche Elitesportler und Essstörungen“ zusammentragen und haben dazu die einschlägigen Datenbanken nach entsprechenden Studien durchsucht. Dabei fanden sie 80 Untersuchungen. Insgesamt fielen die Ergebnisse der Arbeiten widersprüchlich aus, und die wissenschaftliche Qualität war eher gering. Immerhin einige Aspekte konnten die Schweizer Forscher näher beleuchten.
Männliche Leistungssportler weisen demnach häufiger ein gestörtes Essverhalten auf und erkranken häufiger an Essstörungen als Nicht-Sportler. Allerdings scheint das vor allem bei Erwachsenen der Fall zu sein, Jugendliche am Beginn ihrer Karriere sind seltener betroffen.
Das weitgehende Fehlen geeigneter Untersuchungsinstrumente erschwere es allerdings, das Ausmaß der Störungen im Einzelfall korrekt zu beurteilen, merken die Wissenschaftler an. Meist kommen nur von den Sportlern selbst ausgefüllte Fragebogen zur Auswertung. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) empfiehlt die Eating Disorder Examination, die aber für den Einsatz bei Frauen entwickelt wurde und letztlich nicht auf die spezielle Problematik von Sportlerinnen und Sportlern zugeschnitten ist. Die Entwicklung passender Tools sei überfällig, merken die Kollegen an.
Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale – etwa besondere Formen des Perfektionismus – dürften Essstörungen bei den Profisportlern befördern. Hinzu kommen spezifische Aspekte einiger Sportarten, bei denen das Abnehmen und Gewichthalten quasi auf dem Trainingsplan steht.
Turner, Eiskunstläufer und Jockeys müssen wenig wiegen
So ist etwa bei den Kunstturnern oder den Eiskunstläufern ein geringes Körpergewicht Voraussetzung für den sportlichen Erfolg, sodass die Betroffenen auch unter dem Druck ihrer Trainer stehen – was extreme Diäten als ersten Schritt hin zur manifesten Krankheit praktisch programmiert. Ähnliches gilt für Jockeys und für Sportarten, bei denen die Athleten in Gewichtsklassen eingeteilt werden, wie Boxen oder Gewichtheben.
Bestimmte Begleiterkrankungen sind nach einigen Berichten ebenfalls mit gestörtem Essverhalten assoziiert. In erster Linie sind das psychiatrische Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen und Substanzmissbrauch. Ob sie allerdings die Ursache sind oder doch eher die Folge, lässt sich auf Grundlage der ausgewerteten Arbeiten nicht ableiten, schreiben die Wissenschaftler. Längsschnittstudien könnten in dieser Sache Klarheit bringen.
So lange kein allgemein anerkanntes Vorgehen für die Diagnosestellung existiert, ist die Behandlung jeder Erkrankung naturgemäß schwierig. Dementsprechend hat keine der 80 Einzelarbeiten evidenzbasierte Interventionen zur Prävention oder Behandlung von Essstörungen bei Leistungssportlern testen können. Bis solche Maßnahmen untersucht und in ihrer Wirkung belegt sind, sprechen sich die Schweizer für einige grundlegende Maßnahmen aus, wie sie sich unter anderem in einem Positionspapier des IOC finden lassen:
- ausführliche Aufklärung schon über die Anfänge eines gestörten Essverhaltens (Sportler, Trainer, Angehörige)
- professionelle Ernährungsberatung unter Berücksichtigung sportspezifischer Faktoren
- regelmäßige körperliche und psychische Untersuchungen
- bei Bedarf multimodale Behandlung mit Psychotherapie/Psychopharmaka
- umgehende Therapie psychiatrischer und somatischer Erkrankungen
Auch die Sportverbände sehen die Studienautoren in der Pflicht: Sie müssen geeignete Regelwerke entwickeln, in denen etwa Gewichtsklassen bestimmter Sportarten angepasst und die Beurteilungskriterien in den sogenannten ästhetischen Sportarten anders gewichtet werden.
Quelle: Karrer Y et al. BMJ Open Sport Exerc Med 2020; DOI: 10.1136/bmjsem-2020-000801