Interview Mehr genetische Kompetenz für die nephrologische Community

Autor: Elke Klug

Das Thema Nephrogenetik sollte in Zukunft mehr in die Facharztausbildung integriert werden. Das Thema Nephrogenetik sollte in Zukunft mehr in die Facharztausbildung integriert werden. © ktsdesign - stock.adobe.com

In der DGfN gibt es derzeit 38 Kommissionen. In dieser Ausgabe stellen wir die Kommission Genetik und seltene Erkrankungen vor.

Wie in medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften üblich, setzt auch die DGfN Kommissionen und Arbeitsgruppen ein, die sich mit spezifischen Themen und Aufgaben innerhalb des Fachgebiets befassen. Die Kommission Genetik und Seltene Erkrankungen beschäftigt sich mit Methoden, Diagnostik und Therapie genetischer bzw. seltener Erkrankungen, insbesondere in Zusammenhang mit Fragen der politischen und verbandspolitischen Infrastruktur. In der Kommission arbeiten deutschlandweit 20 bis 25 Kommissionsmitglieder. Während der DGfN-Jahrestagung findet ein Treffen aller Kommissionsvorsitzenden statt und zwischenzeitlich tauschen sich die Mitglieder zu speziellen Themen und Fragen mindestens halbjährlich hauptsächlich virtuell aus. Die Kommission arbeitet nach der Geschäftsordnung des DGfN-Vorstands, die für alle Kommissionen gilt. Vorsitzender der Kommission ist Prof. Dr. Jan Halbritter, wissenschaftlicher Leiter des Center for Rare Kidney Disease (CeRKiD) an der Berliner Charité. Er arbeitet eng zusammen mit seiner stellvertretenden Vorsitzenden Dr. med. Svjetlana Lovric, Oberärztin an der Klinik für Nieren-und Hochdruckerkrankungen und Stellvertretende Leitung des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZSE) an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Gemeinsam geben sie im Interview Einblicke in das Arbeitsfeld Nephrogenetik und berichten, welche Herausforderungen es für die Kommission zu lösen gibt.

Herr Professor Halbritter und Frau Dr. Lovric, wie würden Sie die Mission dieser Kommission beschreiben? 

Halbritter: Das Hauptanliegen der Kommission ist, die Eigen-Kompetenz der Nephrologinnen und Nephrologen in Genetik und seltenen Erkrankungen zu fördern. Unsere Mission sehe ich darin, das Wissen über genetische und seltene Nierenerkrankungen in die Breite der nephrologischen Community in Deutschland zu disseminieren und umgekehrt auch eine Plattform zu bieten für Interessierte. Wir verstehen uns in der Kommission als Themenspezifische Koordinierungsstelle zwischen DGfN-Vorstand, Ärzteschaft und Verbänden. 

Lovric: Gleichzeitig arbeiten wir daran, dass das Thema Nierengenetik mehr in das Curriculum der Facharztausbildung einfließt. Dort ist es im Moment noch etwas „unterrepräsentiert“. Nephrologinnen und Nephrologen sollen wissen, welche genetischen Tests bei entsprechenden Fragestellungen anzufordern sind und wie sie dabei vorgehen. 

Halbritter: Hierfür, wie auch für andere Themen, die wir uns auf die Agenda geschrieben haben, besprechen wir als Vorsitzende regelmäßig, was ansteht und was zu tun ist. Da war zum Beispiel im letzten Jahr die Initiative unseres Workshops, um nephrogenetische Lehrinhalte breiter zu streuen. Dafür haben wir vom DGfN-Vorstand das Angebot bekommen, dass wir die entsprechenden Themen in einen Facharztvorbereitungskurs integrieren, um so eine größere Zielgruppe zu erreichen (XXI. Intensivkurs für Nieren- und Hochdruckkrankheiten Online- und Präsenzveranstaltung 04.-08.05.2026, Münster). Es geht darum, die wichtigsten Krankheitsbilder vorzustellen, die Indikationsstellung für eine genetische Testung zu erfahren und das Lesen eines genetischen Befundes zu erlernen. Da spielen oft ganz naheliegende Dinge wie die Familienanamnese eine Rolle, an die man eben denken muss. Mit ein bisschen „Awareness“ kann das von jedem praktiziert werden. Wenn man hört, dass die Elterngeneration schon Dialyse oder Nierentransplantation benötigt, sollte sofort der Reflex zur genetischen Diagnostik ausgelöst werden. Darüber hinaus möchten wir gern internationale Leitlinien zu genetischen Krankheitsbildern, z.B. von der KIDIGO, in einer verkürzten, „leicht lesbaren“ Form in deutschen Journalen präsentieren.

Wie kann man Mitglied werden, wie setzt sich die Kommission zusammen? 

Halbritter: Es gibt ein offenes Verfahren. Jeder, der mitwirken möchte, wird als Mitglied der Kommission aufgenommen. Einzige Voraussetzung ist die DGfN-Mitgliedschaft. 

Lovric: Wir haben das große Glück, dass in der Kommission auch Humangenetikerinnen und Humangenetiker vertreten sind, die einen nephrologischen Schwerpunkt haben. Aber auch umgekehrt Nephrologinnen und Nephrologen mit humangenetischem Schwerpunkt, so dass sich das wunderbar ergänzt. Wenn Anfragen eingehen, und das kommt in letzter Zeit häufiger vor, finden wir die richtige Ansprechperson und vermitteln auch weiter. 

Es gibt sehr viele übergreifende Themen der Fachgesellschaft, womit sich der Vorstand einer Fachgesellschaft beschäftigen muss: wissenschaftlicher Austausch, Wissenstransfer, ethische Fragen, Fort- und Weiterbildung des ärztlichen Personals und nicht zuletzt die Interessenvertretung gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit. Wie bringt sich die Kommission ein? Welche Anliegen möchten Sie durchgesetzt sehen z.B. auch gegenüber der Gesundheitspolitik? 

Halbritter: Wenn es um spezifische Themen geht, z.B. in der Gesetzgebung, so sind die Fachgesellschaften aufgerufen in diesem Prozess Stellungnahmen abzugeben. Bei uns geht es u. a. um die genetische Aufklärung oder die Novellierung des Gen-Diagnostikgesetzes. Das delegiert der Vorstand an die Kommission und wir prüfen, ob wir die wichtigsten Dinge berücksichtigt finden. Ein anderes Beispiel ist die Initiative der Codierung Seltener Erkrankungen (Alpha-IDs, ein deutsches Analog zu den Orpha-Codes), bei der wir im Auftrag des Vorstands aufgerufen waren, die Liste der zu codierenden Entitäten auf Vollständigkeit unseres Fachbereichs zu prüfen. Bei solchen Anforderungen versuchen wir die Interessen der nephrologischen Gesellschaft bestmöglich zu berücksichtigen. 

Woran ist das wachsende Interesse der Nephrologen am Themengebiet Genetik/Seltene Erkrankungen erkennbar?

Halbritter: Wir registrieren eine steigende Anzahl von Einsendungen für genetische Diagnostik. Es ist ein Trend, der schon seit mehreren Jahren zu beobachten ist, dass die genetische Diagnostik Teil der klinischen Routine geworden ist. In der pädiatrischen Nephrologie ist es schon lange der Fall, aber in der Erwachsenennephrologie ist genetische Diagnostik erst in den vergangenen fünf Jahren tatsächlich in der Praxis angekommen. Wir haben aktiv darauf hingearbeitet, dass gewissermaßen „verinnerlicht“ wird, dass in manchen Fällen die genetische Testung am Anfang der differenzialdiagnostischen Abklärung steht. Manchmal ist sie noch vor der Nierenbiopsie, manchmal additiv zur Nierenbiopsie anzusiedeln. Wichtig ist uns aber, dass sie in jedem Fall mit bedacht wird, wenn man in der Differenzialdiagnose einer Nierenerkrankung die Ursache oder die zugrundeliegende Erkrankung definieren möchte.

Lovric: Die breite Anwendung hat sicher auch mit der technischen Entwicklung zu tun. So ist durch die sog. Next-Generation-Sequenzierung, ganz gleich ob als Exome- oder Genom-Sequenzierung auch eine Kosteneffizienz eingetreten. 

Wie ist die Vermittlung genetischer Kompetenz im Medizinstudium oder anderen Fort- und Weiterbildungs Formaten verankert?

Lovric: Im Studium gibt es Kurse in der Humangenetik. In der Inneren Medizin kommt das genetische Curriculum allerdings oftmals zu kurz. Wir sind der Meinung, dass Nephrogenetik noch mehr in der Breite etabliert werden muss. Dass man z.B. auch an syndromale Erkrankungen denkt, dass die Hörstörungen etwas mit der Nierenerkrankung zu tun haben kann, wie das bei Kollagenmutationen der Fall ist. 

Halbritter: Zurzeit gibt es Bemühungen der DGIM, die verschiedenen internistischen Disziplinen zu koordinieren, in einem Positionspapier die Stärkung der genetischen Inhalte in der Inneren Medizin einzufordern, beispielsweise in der Facharztausbildung. Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, weil wir letztendlich alle vor den gleichen Problemen stehen, ob in der Nephrologie oder in der Kardiologie. Wir haben Nachholbedarf. Und die DGIM ist da die richtige Dach-Gesellschaft. 

Beschränkt sich das Interesse nur auf Anfragen, die an Sie gerichtet werden, oder wird die genetische Diagnostik auch schon in größerem Maße an Kliniken und Praxen durchgeführt?

Halbritter: Handfeste Zahlen gibt es nicht. Damit kommen wir zu einem Problemfeld, das in Deutschland sehr ausgeprägt ist. Wir haben keine zentralisierte genetische Diagnostik. Jeder kann verschiedene Diagnostische Institute beauftragen. Die Landschaft ist hier sehr fragmentiert. Ich kann für die Charité sagen, wie viele Einsendungen wir hier haben. Da ist ein Wachstumstrend zu beobachten. Aber ich weiß eben nicht, wie häufig genetische Testung überhaupt beauftragt wird und wohin landesweit die genetischen Beauftragungen aus der Nephrologie verschickt werden. In anderen europäischen Ländern gibt es genetische Referenzzentren, die für bestimmte Krankheitsbilder eingerichtet worden sind. Sie haben dann eine bessere Zahlengrundlage, weil alles an einem Ort registriert wird.

Gibt es „Standards“ in der Diagnostik, so dass bei einer bestimmten Untersuchung am Ende immer, egal in welchem Labor oder Institut durchgeführt, zumindest das gleiche Ergebnis heraus kommt?

Halbritter: Es gibt für alle Labore diagnostische Zertifizierungen. Allerdings haben Labore teils unterschiedliche Genpanels. Manche bieten große, allumfassende Genpanels, andere sehr definierte kleine Panels an. Kommt jemand mit einem negativen genetischen Befund von extern zu uns zur Zweitmeinung, ist immer zu erfragen, mit welcher Methodik der Befund erstellt wurde. Bei Vorliegen von bestimmten diagnostischen Lücken kann es sein, dass wir eine erneute genetische Testung empfehlen.

Lovric: Es kommt bei der Befundauswertung darauf an, welches Next-Generation-Sequenzierungs-Verfahren angewendet wurde. Zudem gibt es immer wieder neue Gene, neue Methoden, tiefere Sequenzierungen. So dass eine Re-Analyse alle zwei bis fünf Jahre empfohlen wird, wenn sich aufgrund der Fallpräsentation eine erbliche Ursache vermuten lässt. 

Was würden Sie sich diesbezüglich wünschen? 

Halbritter: Hier kommen wir in das (Problem-) Feld der ePA. Wir würden uns z.B. wünschen, dass es zumindest immer eine nachvollziehbare Dokumentation jeder genetischen Diagnostik gibt. Auch, um Doppeluntersuchungen zu vermeiden – gerade in der Genetik. Da genetische Befunde aus Datenschutzgründen oft nicht in elektronischen Krankenakten auftauchen, kommt es nicht selten zu vermeidbaren Doppeluntersuchungen.

Lovric: Das Problem ist, dass der genetische Befund zunächst nur dem Einsender und dem Patienten bekannt ist. Stellt sich der Patient dann ohne seinen Befund in einer nephrogenetischen Schwerpunktsprechstunde vor, muss eine Schweigepflichtsentbindung unterschrieben werden, um als Behandler den Befund überhaupt sehen zu können.

Wo und bei welchen Krankheitsbildern sehen Sie im Moment den größten Nutzen der genetischen Forschung für Patienten?

Halbritter: In der diagnostischen Zuordnung. Wir haben durch eine verfeinerte Diagnostik mehr prognostische Aussagekraft. Zum Beispiel Zystennieren (ADPKD). Hier können wir durch die Genetik sehr viele Subtypen definieren, die mit einer sehr günstigen und milden Verlaufsform einhergehen. Das kann die Patienten hinsichtlich ihrer Nierenprognose entlasten und ist ein großer Vorteil, der auch bedeutet, dass man unangenehme Behandlungen vermeiden kann. Das bezieht sich auch auf andere Erkrankungen, z.B. aus dem glomerulären Bereich. Außerdem gibt es einen großen Schub von Medikamentenstudien im Bereich der genetischen und seltenen Nierenerkrankungen Sehr häufig ist hier die Voraussetzung, dass es eine präzise genetische Diagnose gibt, weil die ätiologische Zuordnung beispielsweise an den Wirkmechanismus eines Medikaments geknüpft ist.

Lovric: Krankheiten, die derzeit besonders im Fokus stehen, sind neben der FSGS das Alport Syndrom, das hämolytisch-urämische Syndrom und der Morbus Fabry. Bei der FSGS gibt es zwei neue Medikamente, die jetzt in Studien getestet werden. Es ist sehr beeindruckend, wie schnell diese Entwicklung in den letzten Jahren ging. Menschen mit der Diagnose einer genetischen Erkrankung können das Glück haben, dass es unter Umständen bereits einen Ansatz gibt, mit dem sie spezifisch therapiert werden können.

Halbritter: Indem man die Patienten selbst bei noch nicht verfügbarer Therapie diagnostisch zuordnen kann, wird auch die Voraussetzung für klinische Studien geschaffen. Bei der sogenannten ADTKD (autosomal dominante tubulointerstitielle Nierenkrankheit) z.B. sind wir in der Entwicklung so weit, dass man davon ausgehen kann, dass in den nächsten Jahren klinische Studien kommen werden. Jetzt gilt es aber im Vorfeld, die Patienten schon darauf aufmerksam zu machen, für kommende Interventionsstudien zu rekrutieren und überhaupt erst die Betroffenen breiter zu identifizieren. 

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen an den Schnittstellen Humangenetik und Labor?

Lovric: Das größte Problem ist die Kommunikation bei der Einordnung und Interpretation der Befunde. Weitere Herausforderungen sind der Datenschutz, die Qualitätssicherung, das durchgeführte Next-Generation-Sequenzierungs-Verfahren. Und die Variantenbeurteilung, ob man beispielsweise eine Variante unklarer Signifikanz (VUS) als diagnostisch einstuft, wenn alle in der Familie die gleiche Nierenerkrankung haben.

Halbritter: Wir versuchen, uns mit den Humangenetikern in regelmäßigen Abständen zu treffen. Wir haben ein Nephrogenetikboard eingerichtet, wo wir in direkten Austausch treten und uns in einem Konsens in der Varianteninterpretation einigen können. Die Genetiker brauchen die klinischen Informationen, um befunden zu können. Es gibt standardisierte Kriterien der Variantenbeurteilung, die auf internationaler Ebene erstellt werden und immer mal wieder Anpassungen und Änderungen unterworfen sind – insgesamt ist die Varianteninterpretation ein sehr viel transparenterer und besser standardisierter Vorgang als früher.

Wie ist die Kommission national und international vernetzt?

Halbritter: Es gibt das Pendant zur Kommission Genetik und Seltene Erkrankungen auf der Europäischen Fachgesellschaftsebene, die Genes & Kidney Working Group. Das ist eine ähnlich aufgestellte Kommission wie unsere auf transeuropäischer Ebene, die Wissen disseminiert, Positionspapiere schreibt für europäische oder internationale Journale. Und dann gibt es gleichzeitig ein von der EU aufgesetztes Netzwerk für seltene Nierenerkrankungen, das ERKNet, mit einer sehr guten Infrastruktur, auch hinsichtlich eines europäischen Registers. ERKNet umfasst 72 Zentren in Europa. Der Unterschied zur europäischen Fachgesellschaft besteht darin, dass Expertinnen und Experten sowohl aus dem pädiatrischen als auch dem adulten Bereich zusammen kommen. ERKNet ist in den letzten 10 Jahren geschaffen worden und inzwischen für alle eine wichtige Ressource.

Lovric: Deutschland ist mit 11 Zentren dabei (Aachen, Berlin, Köln, Erlangen, Essen, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Leipzig, Münster und Rosenheim) und wir schließen regelmäßig Patientinnen und Patienten mit seltenen genetisch bedingten Nierenkrankheiten ins zugehörige Register (ERKReg) ein. ERKReg erlaubt durch den europäischen Austausch Antworten auf bestimmte Fragestellungen zu speziellen Erkrankungen. Wie viele Menschen betrifft es, welche genetischen Varianten finde ich vor etc. Das ist sehr hilfreich, da wir kein vergleichbares nationales Register zur Verfügung haben. 

Herr Prof. Dr. Halbritter, Frau Dr. Lovric, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Quelle: Medical-Tribune-Bericht