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Ambulante Behandlung Neue Wege aus der Alkoholabhängigkeit

Autor: Dr. Anja Braunwarth

Nach der Entlassung aus der stationären Behandlung bleiben die meisten Patienten mit Alkoholabhängigkeit ohne weitere Betreuung. Nach der Entlassung aus der stationären Behandlung bleiben die meisten Patienten mit Alkoholabhängigkeit ohne weitere Betreuung. © iStock/Instants
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Im stationären Entzug gut betreut und dann sich selbst überlassen: Dieses Schicksal erleidet die Mehrzahl der Alkoholabhängigen. Kein Wunder, dass viele rückfällig werden. Ein Stuttgarter Allgemeinmediziner hat in seiner Praxis neue Ansätze zur ambulanten Behandlung entwickelt und darüber nun ein Buch geschrieben.

In Deutschland gibt es ca. 1,8 Mio. Alkoholabhängige – keine geringe Menge. Doch während sich eine große Anzahl von Fachärzten um Bluthochdruck oder Diabetes kümmert, sind Spezialisten für Alkohol­abhängige Mangelware, kritisiert Dr. Albrecht Ulmer aus Stuttgart. Von ärztlicher Seite gibt es stattdessen den gleichen Rat wie seit Jahrzehnten, zu einer Beratungsstelle und vielleicht zur Therapie zu gehen. „Wir müssen diese Abhängigkeit genauso als schwere chronische Krankheit betrachten“, betont der Allgemein- und Suchtmediziner. Das bedeutet, die Betroffenen bedürfen der kontinuierlichen medizinischen Versorgung – die sie aber nur selten bekommen.

Großer Mangel an ambulanter Betreuung

Der stationäre Entzug ist dabei nicht der Knackpunkt, er steht in der Regel flächendeckend zur Verfügung. Doch nach der Entlassung bleiben die meisten Patienten ohne weitere Betreuung. Und eine medikamentöse Behandlung, bei anderen chronischen Erkrankungen eine Selbstverständlichkeit, erhalten sie so gut wie nie. „Suchtkrank ist man, weil man etwas braucht.“ Den Versuch, sich dieses Brauchen abzugewöhnen, verkraften viele nicht gut, erklärt der Kollege. Die möglichen Folgen: Reizbarkeit, Depression und Verlust von Initiative. Scheitern die Abhängigen am Verzicht, greifen sie wieder zum Alkohol. Das muss nicht sein, wenn man sie auf bessere Substanzen, sprich Medikamente, einstellt.

Der Suchtmediziner und sein Team haben in ihrer Gemeinschaftspraxis in den vergangenen 30 Jahren Ansätze für eine effektive Behandlung alkoholabhängiger Menschen entwickelt und als 1. Stufe mehr als 1.000 ambulante Entzüge durchgeführt. Mit Medikamenten auch in einer 2. Stufe weiterzubehandeln wurde erst allmählich über Jahre erarbeitet. Das Entscheidende: die Auswahl der richtigen Substanz und der standardisierte Einsatz. Denn viele der von den Stuttgarter Kollegen verwendeten Präparate können bei falscher Handhabung schweren Schaden anrichten.

Große Bedeutung in dieser medikamentösen Therapie haben Substanzen, die ein wenig wie Alkohol selbst wirken, also beruhigend und entspannend. Der entscheidende Unterschied besteht in den wesentlich geringeren Nebenwirkungen und Spätschäden. Zu den wichtigsten „Agonisten“ könnten Benzodiazepine und Clomethiazol gehören. Benzodiazepine kommen aber kaum infrage. Sie führen nicht nur zu einer starken und schwer zu therapierenden Abhängigkeit, sondern im Dauergebrauch auch immer wieder zu gravierenden Persönlichkeitsveränderungen.

Dr. Ulmer hält daher Clomethiazol für die bessere Wahl, die allerdings ebenfalls mit äußerster Vorsicht zu genießen ist. Es hat 2005 seine Zulassung für ambulante Verschreibungen wegen lebensgefährlicher Mischintoxikationen bei gleichzeitigem Konsum von Alkohol und wegen des Verdachts auf ein hohes Abhängigkeitspotenzial verloren. Beides konnten die Stuttgarter Kollegen durch einen klar strukturierten Einsatz sicher verhindern. Mischintoxikationen beobachteten sie gar nicht, und mit nur wenigen Ausnahmen gelang es ihren Patienten, die Therapie problemlos wieder zu beenden. Wegen dieser Ausnahmen rät Dr. Ulmer aber dazu, die Behandlung höchstens ein paar Monate als Übergang nach dem Entzug anzusetzen. Bei Bedarf lässt sie sich jedoch jederzeit wiederholen.

Als überzeugendste Substanz für eine langjährig gute Einstellung bezeichnet Dr. Ulmer Dihydrocodein (DHC). „Damit kommt man dem Ideal von leichter Entspannung und Stimmungsaufhellung ohne Gefahr von Trunkenheit und Organschäden sehr nahe.“ Die induzierte Abhängigkeit erwies sich in der Praxis unter strukturierten Bedingungen als problemlos. Wer nicht vom DHC profitierte oder es nicht vertrug, kam binnen kurzer Zeit wieder davon weg. Wem es aber guttut, der sollte die Therapie „gewissenhaft und geduldig“ fortführen. „Die Patienten können damit wie Gesunde leben und Frauen gesunde Kinder zur Welt bringen“, so Dr. Ulmer.

Ähnliche Effekte lassen sich mit anderen Opioiden, z.B. Buprenorphin, oralem Morphin oder Methadon erzielen. Insgesamt hält der Kollege diese Substanzgruppe für das Beste, um Alkoholkranke von der Abhängigkeit loszueisen. Die These stößt natürlich auf Skepsis. Neben Hinweisen auf Opioidtote, die es bei gut strukturierter Behandlung (Einführung, Pläne, regelmäßige Sprechstunde) praktisch nicht gibt, fragen die Kritiker häufig: Reicht es nicht, dass die Patienten alkoholabhängig sind, müssen wir sie auch noch opioidabhängig machen? „Wir erzeugen keine neue Abhängigkeit, wir setzen nur auf viel bessere Substanzen um“, entgegnet Dr. Ulmer.

Standardisierung der Therapie ist das Wichtigste

Er weist aber darauf hin, dass damit auch eine Abhängigkeit vom verordnenden Arzt und seinem Team entsteht, mit der der Patient klarkommen muss. Das berührt Fragen der menschlichen Haltung und des richtigen Behandlungs-Settings. Für die Behandler bedeutet es, Verlauf und Prognose der schweren Krankheit viel mehr beeinflussen zu können.

Eine Alternative zu Opioiden bietet manchmal Baclofen. Das Muskelrelaxans kann leichte Müdigkeit auslösen, zudem oft etwas Entspannung. Es hat den Vorteil, dass es nicht selbst abhängig macht, außerdem lässt es sich schon eindosieren, wenn die Patienten noch trinken. Doch das agonistische Potenzial ist vergleichsweise gering, in der Stuttgarter Praxis erlebten nur 10 % der damit Behandelten eine nachhaltige Wende. Dennoch gehört es zum Spektrum.

Einen Pferdefuß gibt es generell: Alle genannten Medikamente sind nicht für diese Indikation zugelassen und müssen von den Patienten selbst bezahlt werden. Die Kosten für die ärztliche Behandlung übernimmt dagegen die Kasse. Aber, so vielversprechend sich die Therapien anhören: Dr. Ulmer warnt dringend davor, sie einfach nachzuahmen. Ohne absolut verlässliche Struktur und gute Vernetzung drohen zu viele Gefahren. Es gilt, so viel wie möglich zu standardisieren. Größte Relevanz haben schriftlich angelegte, genaue Dosierpläne, wobei die Medikamente nur in begrenzter Menge verordnet bzw. zugeteilt werden. Und natürlich muss man mit den Kranken regelmäßige Gespräche führen.

Unabdingbare Voraussetzung für eine Standardisierung der Therapien ist es, die genannten Ansätze in Studien zu validieren. Dr. Ulmer hofft, dafür Sponsoren zu finden, wozu auch sein Buch beitragen soll.

Quelle: Albrecht Ulmer: Alkoholabhängigkeit anders behandeln? Ansätze zu neuen Hoffnungen. Verlag tredition, ISBN 978-3347383807

Dr Albrecht Ulmer, Allgemeinarzt und Suchtmediziner Dr Albrecht Ulmer, Allgemeinarzt und Suchtmediziner © Anni Jurcec-Meister