Anzeige

Phänotypisierung Umdenken bei der MS

Neurowoche 2022 Autor: Friederike Klein

Bei Multipler Sklerose kann ein Progress auch unabhängig von einem Schub auftreten. Bei Multipler Sklerose kann ein Progress auch unabhängig von einem Schub auftreten. © ag visuell – stock.adobe.com
Anzeige

Immer klarer wird, dass ein Progress schon früh und unabhängig von MS-Schüben auftritt. Das könnte die bisherige Klassifikation der Krankheitsprogression über den Haufen werfen.

Ein Progress unabhängig von einer Schubaktivität (progress independent of relapse, PIRA) kann schon bei früher MS und CIS auftreten, berichtete Prof. Dr. Ralf Gold von der Neurologischen Klinik der Ruhr-Universität Bochum. Tatsächlich zeigte sich bei der Auswertung klinischer Daten von mehr als 27.000 Patienten, dass Schübe nur bei Kindern der Haupttreiber der Behinderungsprogression waren, während bei Erwachsenen mit MS in allen Erkrankungsphasen auch eine PIRA zu beobachten war. 

Eine noch nicht publizierte Untersuchung weist auf PIRA bei jedem Vierten mit klinisch isoliertem Syndrom (CIS) hin, ohne dass sich Unterschiede hinsichtlich Geschlecht, Zahl oder Topologie der Hirnläsionen, der gadoliniumaufnehmenden Läsionen oder des Anteils der Betroffenen mit oligoklonalen Banden im Vergleich zu Betroffenen mit CIS ohne PIRA feststellen ließen. „Neue klinische Kriterien wie PIRA haben eine zunehmende Bedeutung für das Verständnis früher bleibender Behinderung bei MS“, sagte Prof. Gold.

Die Progression der Multiplen Sklerose wird getrieben von einer Kombination aus persistierender Entzündung, verschiedenen neurodegenerativen Pathomechanismen und einem Verlust von Kompensationsmechanismen, erläuterte Prof. Dr. Tanja Kuhlmann vom Institut für Neuropathologie des Universitätsklinikums Münster. Das Ausmaß dieser Faktoren variiert und erklärt den individuell unterschiedlichen Krankheitsverlauf. 

Eine schnelle Progression ist mit einer höheren Läsionslast, mehr aktiven und gemischt aktiven/inaktiven Läsionen sowie weniger Remyelinisierung assoziiert. Dies ergab sich aus der Untersuchung von Hirngewebe gestorbener MS-Patienten in den Niederlanden.

Prof. Kuhlmann konnte in Gewebe aus der Netherlands Brain Bank zudem einen neuen Läsionstyp identifizieren, der in 12 von 18 Fällen mit schnellem und nur bei einem von 29 Betroffenen mit einem langsameren Krankheitsverlauf auftrat. Diese „broad rim lesions“ besitzen einen Saum von Makrophagen/Mikroglia in der normal erscheinenden weißen Substanz und weisen auf eine hohe entzündliche Aktivität im ZNS als Mitverursacher für die Krankheitsprogression hin. 

Denkt man diese und andere neuere Befunde zum Verlauf der MS konsequent weiter, muss die Klassifikation der progredienten MS überdacht werden. Erst kürzlich wurde eine neue Phänotypisierung der MS auf Basis der immer besser charakterisierten pathologischen Schlüsselmechanismen vorgeschlagen, um einen Schritt weiter in Richtung einer Präzisionsmedizin auch bei MS zu gehen. Prof. Dr. Alan J. Thompson von der Fakultät für Hirnwissenschaften des University College London wies allerdings auf die Konsequenzen hin, denn die bisherige Klassifikation ist Basis 

  • für das Krankheitsverständnis der Patienten,

  • die Zulassungsvoraussetzungen und Zulassungen durch die Behörden,

  • die Kostenerstattung durch Krankenkassen,

  • die ICD-11-Codes.

Bevor eine einschneidende Änderung umgesetzt wird, sollte das neue Konzept erst gut validiert werden, um die Genauigkeit und Umsetzbarkeit für wissenschaftliche Zwecke und Klinik unter Beweis zu stellen, forderte er.

Quelle: Kongressbericht Neurowoche 2022