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Was Corona für Drogenabhängige bedeutet

Autor: Dr. Anja Braunwarth

Durch die Corona-Pandemie ist die Lage der Drogennutzer im Frankfurter Bahnhofsviertel äußerst prekär geworden. (Agenturfoto) Durch die Corona-Pandemie ist die Lage der Drogennutzer im Frankfurter Bahnhofsviertel äußerst prekär geworden. (Agenturfoto) © iStock/Emmanuelle Firman
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Zu den Menschen, die durch die Coronakrise in große Not geraten sind, gehören auch Drogenabhängige. Dr. Marion Friers vom Eastside, Europas größter niedrigschwelliger Drogenhilfeeinrichtung in Frankfurt, schildert die schwierige Situation nach mehr als einem Jahr Pandemie.

Wie stellt sich die Situation in Ihrer Einrichtung derzeit dar?

Dr. Marion Friers: Die Gesamtsituation ist immer noch angespannt. Wie schon in den ersten beiden Corona-Wellen sind wir weiterhin voll belegt und nehmen viele Klienten auf. Alle unsere Angebote und Leistungen halten wir offen. Wir prüfen ständig die Hygienemaßnahmen, passen sie an und haben sie auch weiter verstärkt. Die höhere Ansteckungskraft der Virusmutationen bereitet uns Sorgen, aber wir können noch keine Auswirkungen feststellen. Die Infektionszahlen sind nach wie vor sehr gering, was für unser Hygienekonzept spricht.

Wie sieht es auf der Straße aus?

Dr. Friers: Durch die Pandemie ist die Lage der Drogennutzer im Frankfurter Bahnhofsviertel äußerst prekär geworden. Um sie zu verbessern, haben wir gemeinsam mit der Stadt Frankfurt Anfang des Jahres den Fokus auf die Unterbringung der Menschen in Einrichtungen gesetzt. Klienten im Eastside, die auf einem guten Weg sind, ihr Leben eigenständig zu organisieren, wurden eigene Wohnmöglichkeiten zugeteilt. Gleichzeitig haben Streetworker die Betroffenen im Bahnhofsviertel motiviert, in das Eastside zu kommen. Das hat zu einem deutlichen Wechsel geführt und noch einmal klargemacht, in welch schlechter Verfassung die Klienten im Bahnhofsviertel sind. Im Eastside gelingt es, Kontakt und Vertrauen zu ihnen aufzubauen, den Unterstützungsbedarf zu ermitteln, Hilfsangebote zu unterbreiten und somit deren Situation zu verbessern.

Was hat sich in der Einrichtung verändert?

Dr. Marion Friers: Allen unseren Klienten ist sehr bewusst, dass eine Einrichtung wie das Eastside nicht schließen darf, denn dann verlieren sie ihr Zuhause. Wir beobachten, dass sie uns in hohem Maße unterstützen. Ein Beispiel: Wir haben die Hygienemaßnahmen gleich zu Beginn intensiviert. Stündlich werden die Türklinken und Handläufe in unserem Haus desinfiziert. Das haben unsere Klienten übernommen und inzwischen ist viel Routine eingetreten. Es zeigt sich eben, dass die Mitarbeiter in der Drogenhilfe mit Krisen umgehen können. Aber natürlich sind wir gefordert, wie alle anderen auch. Wir führen regelmäßig Lagebesprechungen durch und dieser enge Austausch hilft uns nicht nur organisatorisch, er entlastet uns auch.

Wo sind neue Herausforderungen entstanden?

Dr. Marion Friers: Da wir viele neue Klienten im Eastside haben, liegt unser Fokus aktuell vor allem darauf, diese zu stabilisieren. Unser Sozialdienst leis­tet aktuell enorm viel im Bereich Kriseninterventionen. Die offenen Bereiche – das Eastside Café und der Wohnbereich – sind stark gefordert, um Vertrauen aufzubauen und die Versorgung und Unterbringung sicher zu stellen.

Wie sieht es mit der Versorgung der Drogenabhängigen aus?

Dr. Marion Friers: Die Einkommensquellen für drogenkonsumierende Menschen wie Flaschensammeln oder Betteln gehen durch das Kontaktverbot deutlich zurück. Wir spüren deutlich, dass sich die Versorgungslage unserer Klienten verschlechtert hat. Auch die nächtliche Ausgangssperre erleichtert diese Situation nicht, nach wie vor befinden sich viele Drogennutzer auf der Straße.

Wirkt sich das Virus auf den Drogenmarkt aus?

Dr. Marion Friers: Wir alle haben mit einem Engpass in der Versorgung mit illegalen psychoaktiven Substanzen gerechnet. Wir können festhalten: Auf den Schwarzmarkt für Drogen hatte die Pandemie keine Auswirkungen, der Engpass blieb aus. Auch eine Veränderung des Konsumverhaltens können wir nicht feststellen. Die niedrigschwellige Substitution, insbesondere für nicht leistungsberechtigte Drogennutzer ist inzwischen in der Stadt Frankfurt aufgebaut. Der Schwerpunkt liegt dabei aber nicht mehr nur auf dieser niedrigschwelligen Substitution, sondern auf der gesundheitlichen Versorgung insgesamt. Gerade Drogenkonsumenten, die sich noch auf der Straße befinden, sind gesundheitlich stark beeinträchtigt, viele sind schwer chronisch erkrankt. Viele benötigen Medikamente oder auch eine Wundbehandlung. Genau das wird ergänzend zur Substitution nun in dieser humanitären Sprechstunde gewährleistet. Insgesamt war der Aufbau der niedrigschwelligen Substitution, gerade auch für Nicht-Leistungsberechtigte, ein wichtiger Schritt.

Wurden bzw. werden die Klienten alle getestet?

Dr. Marion Friers: Wir hatten im Eastside im Dezember 2020 eine Reihentestung. Dabei wurden von 80 Personen acht Personen positiv getestet und die waren gerade am Tag zuvor neu angekommen. Die Betroffenen kamen dann direkt in die Quarantäneeinrichtung zur umfassenden Versorgung. Von den Mitarbeitern hat sich bis jetzt niemand auf der Arbeit infiziert. Das zeigt uns, dass unser Hygieneplan greift. Aktuell testen wir im konkreten Verdachtsfall.

Wie sieht es mit Impfungen aus?

Dr. Marion Friers: Das Thema Impfung hat uns natürlich am meisten beschäftigt, daher haben wir uns sehr darüber gefreut, dass Bewohner und Mitarbeiter von Obdachlosenunterkünften in die Priorisierungsgruppe 2 aufgenommen worden sind. Es ist eine besondere Herausforderung, die Impfung der Klienten zu organisieren und für eine ordnungsgemäße ärztliche Aufklärung zu sorgen. Die Stadt Frankfurt hat deshalb für die Drogenhilfeeinrichtungen mobile Impfteams beauftragt. Inzwischen haben sowohl im Eastside als auch in unserem Konsumraum in der Niddastraße unsere Klienten ihre Erstimpfung erhalten. Die Resonanz war enorm. Unsere Klienten waren froh, dass an sie gedacht worden ist. 110 Personen wurden im Eastside und über 80 wurden in dem Konsumraum in der Niddastraße geimpft. Alles lief schnell und reibungslos ab und wir freuen uns auf den Termin der Zweit­impfung. Für uns ist das eine große Erleichterung.

Was passiert mit einem Infizierten, wie funktioniert eine Quarantäne?

Dr. Marion Friers: Inzwischen haben wir in Frankfurt einige Infektionen mit dem Coronavirus unter den Klienten gehabt, die Infektionszahlen sind bei diesem Klientel aber nach wie vor gering. Und die verzeichneten Infektionen verliefen mild. Das war für uns sehr beruhigend, da wir aufgrund der Vorerkrankungen etwas anderes erwartet hatten. Inzwischen steht uns eine Quarantäneeinrichtung zur Verfügung, in der die Klienten auch substituiert werden. Die Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsamt, Organisationen der Drogenhilfe und dem ASB, der die Quarantäneeinrichtung betreibt, läuft reibungslos. Gäbe es diese Einrichtung nicht, wären obdachlose Menschen, die infiziert sind oder bei denen ein Infektionsverdacht besteht, auf der Straße oder im Krankenhaus. Bei milden Verläufen würde das aber Betten blockieren, die anderweitig gebraucht werden.

Wie klappt es mit der Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen in der Praxis?

Dr. Marion Friers: Was die Hygienevorgaben betrifft, war die Herausforderung für uns nicht ganz so groß, weil es in der Drogenhilfe bereits geübte Praxis ist. Unsere Mitarbeiter sind seit Jahren erfahren in der Anwendung der Hygieneregeln und in der Händedesinfektion, da regelmäßig unterschiedliche Projekte z.B. zu HIV und Hepatitis umgesetzt wurden. Auch unsere Klienten wurden hier bereits in den unterschiedlichen Gesundheitsprojekten und Gesundheitsgruppen „geschult“. Aber es ist natürlich nach wie vor sehr herausfordernd, gerade wenn wir mit ganz neuen, physisch und psychisch stark beeinträchtigten Klienten zu tun haben. Die Virus-Mutationen und die erhöhte Ansteckungsgefahr bereiten mir Sorge, aber nach wie vor trägt unser Hygieneplan. Was uns hilft: Wir tauschen uns sehr eng aus, auch darüber, was uns belastet. Das zeigt: Resilienz ist vielleicht eine unserer wichtigsten Fähigkeiten.

Passagere Änderungen im Betäubungsmittelgesetz

Das Bundesgesundheitsministerium hat am 21.4. 2020 eine Verordnung über Abweichungen in BTM-Verschreibungen herausgegeben. So darf z.B. ein substituierender Arzt jetzt gleichzeitig mehr als zehn Patienten mit Substitutionsmitteln behandeln oder die Verschreibung auch ohne persönliche Konsultation an den Patienten aushändigen. Das vollständige Dokument: BTM-Änderungen

Wie beurteilen Sie die Erleichterungen im BTM-Verordnungsprinzip?

Dr. Marion Friers: Hier hat sich im letzten Jahr wenig geändert. Die erweiterten Take-Home-Regelungen spielen nach wie vor eine wichtige Rolle, um die Klienten, die zur Risikogruppe gehören, zu schützen und flächendeckend wohnortnah zu versorgen. Nach wie vor fordert die Integrative Drogenhilfe aber eine generelle Revision des Betäubungsmittelgesetzes, mit dem Ziel einer Entkriminalisierung des Drogenkonsums.

Medical-Tribune-Interview