
Nur Marotte oder schon Maladie? Wie man „eingebildete Kranke“ erkennt und behandelt

Sie klagen über Schmerzen in Bauch oder Brust, fürchten sich vor Krebs, Infektionen, Herzinfarkt oder Schlaganfall. Menschen mit einer hypochondrischen Störung kommen mit Symptomen in die Praxis, für die sich partout keine Ursache finden lässt. Dass ihre Ängste vor schweren Erkrankungen grundlos sind, kann sie jedoch kaum beruhigen. Denn schon nach kurzer Zeit sind sie wieder da und fordern weitere Untersuchungen ein. Damit gehören sie nicht gerade zu den Lieblingspatientinnen und -patienten, binden sie doch unnötig Kapazitäten.
Doch natürlich kommen diese Menschen nicht aus Langeweile oder Boshaftigkeit so oft in die Praxis. Die übertriebene Angst vor schweren Krankheiten – die Hypochondrie – ist eine anerkannte psychische Störung mit meist hohem Leidensdruck für die Betroffenen. Die Einschränkungen im Alltag sind mitunter massiv. Prof. Dr. Ulrich Voderholzer, Schön Klinik Roseneck, beschreibt das Krankheitsbild im Podcast O-Ton Allgemeinmedizin als eine Mischung aus Angst und sich permanent aufdrängenden Krankheitsgedanken, verbunden mit einem Vermeidungsverhalten oder Rückversicherungskontrollen.
Da ist der Patient, der 20-mal am Tag Blutdruck misst aus Angst vor einem Schlaganfall. Die junge Frau, die nie mit dem Flugzeug fliegt, weil sie sich vor einer Thrombose fürchtet. Oder der Manager mit seiner Smartwatch, der sich damit mehrfach am Tag ein EKG erstellen lässt, um einen Herzinfarkt auszuschließen. Je mehr das Verhalten den normalen Alltag beeinträchtigt, desto stärker ist der Leidensdruck für die Betroffenen und desto größer die Herausforderung für die Behandelnden. Denn die real erlebten Krankheitsängste erzeugen tatsächlich Symptome, wie Herzrasen, Schweißausbrüche oder gar Atemnot, für die es allerdings keinen Befund gibt. Dieses Mysterium bestärkt die Betroffenen wiederum in ihren Ängsten – ein Circulus vitiosus.
Wie aber kann man den Patientinnen und Patienten helfen, ohne selbst Teil des Teufelskreises zu werden? Meist kommt man mit einer gründlichen Anamnese den Ursachen schneller auf die Spur. Auslöser der Angstspirale sei oft ein lebensgeschichtlich prägendes Ereignis, so der Psychiater und Psychotherapeut, etwa der frühe Tod eines nahen Angehörigen oder eine schlimme Krankheit im Freundeskreis. Menschen mit einem erhöhten Kontrollbedürfnis und hoher Sensibilität gegenüber Körpersignalen seien besonders anfällig, eine hypochondrische Störung zu entwickeln.
Bis zu 1 % der Bevölkerung sind schwer hypochondrisch
Auch exzessives Googeln und die neuen Möglichkeiten der Technik leisteten dem Syndrom Vorschub, erklärt Prof. Voderholzer. Von einer leichten Form betroffen sind schätzungsweise 5–10 % der Bevölkerung, behandlungsbedürftig krank im Sinne einer Zwangserkrankung sind 0,5–1 %. Der Experte rät, Betroffene in jedem Fall ernst zu nehmen und das Verhalten nicht abzutun oder zu kritisieren. Menschen, die immer wieder neue Untersuchungen verlangen, um sich rückzuversichern, nicht krank zu sein, brauchen Hilfe von einem Psychotherapeuten. Das zu erklären, erfordere jedoch Zeit. Wer bereits unter starken Einschränkungen im Alltag leidet, etwa nicht mehr zur Arbeit oder aus dem Haus geht oder depressiv ist, wird diese Hilfe eher annehmen als andere.
Antidepressiva können überbrücken, sollten aber immer erst an zweiter Stelle kommen. Denn Betroffene neigten dazu, wieder übertriebene Ängste vor den Nebenwirkungen der Medikamente zu entwickeln, weiß Prof. Voderholzer. „Wenn aber wirklich schwerer Leidensdruck besteht und man alleine mit Psychotherapie nicht weiterkommt, ist das natürlich auch eine Behandlungsoption.“
Eine vollständige Heilung gibt es oft nicht
Ganz verschwindet eine Hypochondrie meist nicht, aber wenn Betroffene wieder im Alltag zurechtkommen, arbeiten und aktiv am Leben teilnehmen können, ist schon viel erreicht. In der Podcastfolge gibt es noch mehr Infos über die Merkmale der psychischen Störung, warum man sie mittlerweile als eine Zwangserkrankung einstuft und wie man Betroffene bei der Therapie richtig abholt.