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Epilepsiemedikation Absetzen oder nicht: Rezidivrisikorechner als Entscheidungshilfe

Autor: Manuela Arand

Ein besonders hohes Rückfallrisiko besteht in den ersten zwei Jahren nach dem Absetzen von Antiepileptika. Ein besonders hohes Rückfallrisiko besteht in den ersten zwei Jahren nach dem Absetzen von Antiepileptika. © undefined undefined/gettyimages
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Fast jeder Chroniker fragt irgendwann, ob die Behandlung nicht beendet werden kann. Patienten mit Epilepsie sind da keine Ausnahme. Auslassversuche wollen aber gut überlegt und geplant sein.

Antikonvulsiva unterdrücken Krampfanfälle bei 65–85 % der Epilepsiepatienten vollständig, aber in neun von zehn Fällen um den Preis diverser Nebenwirkungen. Anders ausgedrückt: Patienten nehmen eine nebenwirkungsträchtige Dauermedikation, um meist seltene Ereignisse zu verhindern. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Lebensqualität anfallsfreier Patienten signifikant besser ist, wenn sie keine Antikonvulsiva nehmen, berichtete Prof. Dr. ­Bernhard ­Steinhoff, Epilepsiezentrum der Diakonie Kork. Zu beachten sei aber auch, dass jeder zweite bis dritte Patient nach Absetzen der Medikamente wieder Krampfanfälle bekomme. 

Erfolg der erneuten Therapie ist nicht garantiert

Ein besonders hohes Rückfallrisiko besteht in den ersten zwei Jahren nach dem Absetzen. Der Erfolg bei Wiederaufnahme der Therapie ist außerdem nicht garantiert: Von zehn Patienten erreichen nur acht rasch wieder Anfallsfreiheit, bei den übrigen kann es Jahre dauern. „Diesen Punkt müssen Sie mit Ihrem Patienten unbedingt diskutieren, wenn er die Medikation absetzen möchte“, so Prof. Steinhoff. Nach seiner Erfahrung gibt es allerdings auch Patienten, die von der Therapie so frustriert sind, dass sie diese unbedingt abbrechen möchten – selbst, wenn sie trotz Medikation weiter krampfen. 

Bei Betroffenen, die nach einiger Zeit der Anfallsfreiheit die Therapie beenden möchten, gilt es das individuelle Rezidivrisiko abzuwägen. Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass Rückfälle auch unter fortlaufender Behandlung auftreten können. Das hatte schon vor 30 Jahren eine britische Studie gezeigt, in der rund 1.000 Patienten nach mindes­tens zwei anfallsfreien Jahren randomisiert die Medikation beendeten oder fortführten: In der Absetzgruppe erlitten 40 % einen Rückfall, aber mehr als halb so viele auch in der Gruppe mit weiterlaufender Medikation. Patienten mit tonisch-klonischen Anfällen und jene, die mehr als ein Antikonvulsivum genommen hatten, zeigten in beiden Gruppen ein erhöhtes Rezidivrisiko, berichtete Prof. Steinhoff. 

Eine Metaanalyse von zehn Studien1 mit zusammen mehr als 1.700 Patienten und einem medianen Follow-up von fünf Jahren identifizierte u.a. die folgenden Punkte als Risikofaktoren für einen Rückfall:

  • lange Krankheitsdauer
  • mehr als zehn Anfälle vor Remission
  • nur kurzes anfallsfreies Intervall vor dem Absetzen
  • höheres Lebensalter bei Krankheitsbeginn
  • Fieberkrämpfe
  • epileptiforme Entladungen im interiktalen EEG

Sind diese Faktoren nicht vorhanden, besteht größere Hoffnung auf eine anfallsfreie Zukunft. Die Metaanalyse liefert ein Nomogramm, das anhand der Charakteristika eines Patienten anzeigt, wie es um sein Rezidivrisiko in zwei und fünf Jahren steht und wie groß die Chance auf mindestens ein anfallsfreies Jahr in den ersten zehn Jahren nach dem Absetzen ist. „Das funktioniert und hilft meiner Erfahrung nach bei der Diskussion mit den Patienten“, sagte Prof. Steinhoff. 

Keine Dauermedikation nach symptomatischen Krämpfen

Ein relevanter Faktor ist die natürliche Prognose des vorliegenden Epilepsiesyndroms. Sie hilft einzuschätzen, ob die antikonvulsive Medikation weiter benötigt wird, um den Patienten anfallsfrei zu halten. Symptomatische Krampfanfälle etwa infolge einer akuten Infektion, eines Schlaganfalls oder Traumas sind naturgemäß völlig anders zu beurteilen als Krämpfe infolge chronischer Erkrankungen. „Aber wir sehen oft, dass Patienten nach akuten symptomatischen Krampfanfällen eine Dauermedikation erhalten“, sagte Prof. Steinhoff. Die Therapie zu beenden, sei in solchen Fällen zweifellos vernünftig.

Bestimmte Epilepsieformen haben dagegen eine exzellente Prognose unter antiepileptischer Therapie, aber ein hohes Rückfallrisiko, wenn die Medikation abgesetzt wird. Antikonvulsiva machen weitaus die meisten Patienten mit generalisierten tonisch-klonischen Krämpfen beim Aufwachen anfallsfrei, aber 70–80 % rezidivieren nach Absetzen. Bei juveniler myoklonischer Epilepsie sehen die Zahlen ähnlich aus. 

Eine objektive Diskussion über Nutzen, Erfolgschancen und Risiken ist Grundlage für die partizipative Entscheidung, ob ein Auslassversuch erfolgen soll oder nicht. Patienten, die absetzen wollen, müssen wissen, dass sie mindestens drei Monate lang nicht Auto fahren dürfen – was nach den Erfahrungen von Prof. Steinhoff vor allem für viele Berufstätige ein K.-o.-Kriterium darstellt. 

„Wenn Sie entscheiden abzusetzen, muss die biografische Situation des Patienten dafür geeignet sein. Und Sie sollten durch Planung dafür sorgen, dass ein Rezidiv nicht zur Katastrophe gerät“, betonte Prof. Steinhoff. Dazu gehöre eine gründliche Information über Gefahren etwa beim Fahren, Schwimmen, Baden und anderen Aktivitäten. 

Laut ILAE (International League Against Epilepsy) gilt eine Epilepsie als geheilt, wenn ein Patient mindestens zehn Jahre anfallsfrei war, davon mindestens fünf Jahre ohne Medikation. Komplett sicher sein kann man sich jedoch nie: In Einzelfällen sind Anfallsrezidive auch schon nach mehr als zehn medikationsfreien Jahren beobachtet worden.

Quelle:
1. Lamberink HI et al. Lancet Neurol 2017; 16: 523-531; DOI: 10.1016/S1474-4422(17)30114-X