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Schädel-Hirn-Traumata Aktive Reha mit kognitivem Training sinnvoll

Autor: Dr. Melanie Söchtig

Durch strukturierte und kontrollierte Lernereignisse induziert es eine erfahrungsabhängige Neuroplastizität. Durch strukturierte und kontrollierte Lernereignisse induziert es eine erfahrungsabhängige Neuroplastizität. © amazing studio – stock.adobe.com
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Egal ob Kopfball, Zusammenstoß mit dem Gegner oder Sturz vom Fahrrad: Beim Sport ergeben sich viele Möglichkeiten für Schädel-Hirn-Traumata. Zum Glück ist im Falle einer einfachen Gehirnerschütterung nach ein paar Tagen wieder alles beim Alten – oder nicht? Die Sicherheit trügt.

Die langfristigen Auswirkungen eines leichten Schädel-Hirn-Traumas (Grad 1) auf die Kognition werden häufig unterschätzt. Insbesondere wiederholte Gehirnerschütterungen gehen mit einem erhöhten Risiko für verschiedene neurologische Erkrankungen und langfristige kognitive Defizite einher. So lautet das Fazit einer Übersichtsarbeit von Dr. ­Harry ­Hallock von der Berlin School of Mind and Brain, Humboldt-Universität zu Berlin, und Kollegen.
Allein in den USA ereignen sich Schätzungen zufolge jährlich rund 3,8 Millionen Gehirnerschütterungen beim Sport und im Rahmen von Freizeitaktivitäten. Rund die Hälfte davon wird gar nicht erst aktenkundig. Offenbar nehme die Häufigkeit von Schädel-Hirn-Traumata im Sport seit Jahrzehnten stetig zu, so die Autoren. Zu den Risikosportarten in dieser Hinsicht gehören US-Studien zufolge American Football, Eishockey und Fußball.

Im Rahmen einer Commotio kann es zu diffusen, unter Umständen schwer zu erkennenden Verletzungen kommen. Die Folgen hängen davon ab, ob die Axone von Nervenzellen und/oder Blutgefäße betroffen sind. Die möglichen Auswirkungen reichen von Störungen in der Signalübertragung, dem Stoffwechsel und dem zerebralen Blutfluss bis hin zu einem akuten Ausfall der neuronalen Funktionen.

Axonale Verletzungen könnten Defizite verursachen

Obwohl die zugrunde liegende Pathophysiologie noch nicht geklärt ist, legen neuere Hypothesen einen Zusammenhang zwischen kognitiven Beeinträchtigungen nach einer Gehirnerschütterung und axonalen Verletzungen im Hippocampus nahe. Demnach könnten anhaltende Defizite bei der Synchronisation, der Gedächtniskonsolidierung und der Verbindung zwischen dem Hippocampus und anderen Hirnregionen (z.B. präfrontaler Kortex, Amygdala) die Ursache für Symptome wie Gedächtnisstörungen und Aufmerksamkeitsdefizite sein.

Daneben können sich kognitive Folgen einer Gehirnerschütterung in Form von Beeinträchtigungen der Verarbeitungsgeschwindigkeit und der exekutiven Funktionen äußern. Die Symptome klingen in der Regel innerhalb weniger Tage bis zu einem Monat ab. Doch es gibt auch Fälle, in denen sie drei oder mehr Monate anhalten. Und das Verschwinden der Symptome bedeutet nicht unbedingt, dass die kognitiven Fähigkeiten vollständig wiederhergestellt sind. So zeigen neuropsychologische Tests bei 80–90 % der Betroffenen anhaltende kognitive Defizite auf.

Vor allem wiederholte Gehirnerschütterungen steigern die Gefahr für einen späteren kognitiven Verfall und Depressionen. Sie erhöhen zudem offenbar das Risiko für Multiple Sklerose, Alzheimer, Schlaganfall, Parkinson und Epilepsie. Erschwerend kommt hinzu, dass offenbar jede Gehirnerschütterung die Sensibilität für weitere Verletzungen dieser Art erhöht: Die Stärke des Aufpralls, die erforderlich ist, um neuropathophysiologische Veränderungen und klinische Symptome hervorzurufen, nimmt mit jeder Commotio weiter ab.

Bei der Beurteilung von Gehirnerschütterungen sowie anderen Schädel-Hirn-Traumata stehen neurologische, neuropsychologische und vestibuläre Tests im Vordergrund. Zunehmend kommt auch Bildgebung zum Einsatz. In schweren Fällen kann eine CT durchgeführt werden, um eine intrakranielle Blutung auszuschließen. Angesichts der geringeren Sensitivität der CT für andere mit der Gehirnerschütterung zusammenhängende Veränderungen bleibt die Magnetresonanztomografie jedoch das bevorzugte Verfahren. Dies gilt insbesondere in der sub­akuten und chronischen Phase, wenn die Genesung schlechter als erwartet verläuft oder neurologische Defizite bestehen bleiben.

Darüber hinaus haben Biomarker wie Neurofilament-Leichtketten und mobile Medizingeräte wie tragbare Beschleunigungssensoren das Potenzial für eine schnellere und präzisere Bewertung von Schädel-Hirn-Traumata. Bevor diese Methoden jedoch für den Einsatz in der Praxis empfohlen werden können, fordern die Autoren des Reviews weitere Studien.
Bei mittleren und schweren Traumata liegt der Schwerpunkt der Behandlung auf der beruflichen, sprachlichen, körperlichen und psychologischen Rehabilitation sowie der Verbesserung der Funktionsfähigkeit. Die kognitive Rehabilitation rückt dabei oft in den Hintergrund.

Gemäß einem Konsenspapier der Concussion in Sport Group wird der schrittweise Wiedereinstieg in die körperliche Betätigung nach einer anfänglichen 24- bis 28-stündigen Ruhepause empfohlen. Diese Maßnahme verringert die Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene unmittelbar danach eine weitere Gehirnerschütterung erleidet. Trotzdem wird die Empfehlung kognitiver und körperlicher Ruhepausen heutzutage infrage gestellt. So haben sich Hinweise darauf gefunden, dass absolute Ruhe die Genesung nicht signifikant beschleunigt und im schlimmsten Fall sogar beeinträchtigen kann. Dahingegen verbessert moderate körperliche und geistige Aktivität die neurokognitiven Ergebnisse nach einer Gehirnerschütterung im Vergleich zu hoher oder keiner Aktivität.

Strukturiertes Lernen induziert Neuroplastizität

Die Autoren der Übersichtsarbeit sprechen sich daher für eine aktive Rehabilitation aus. Ihrer Ansicht nach ist dabei das kognitive Training eine sinnvolle zusätzliche Option. Durch strukturierte und kontrollierte Lernereignisse induziert es eine erfahrungsabhängige Neuroplastizität. Dies eröffnet nicht nur die Möglichkeit, kognitiven Defiziten nach einer Gehirnerschütterung vorzubeugen und bestehende Symptome zu lindern. Auch die sportliche Leistung wird dadurch verbessert und das Verletzungsrisiko gemindert.

Quelle: Hallock H et al. Neurol Clin Pract 2023; 13: e200123; DOI: 10.1212/CPJ.0000000000200123