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Nicht-Polio-Enteroviren Comeback der Kinderlähmung

Autor: Dr. Angelika Bischoff

EV-D68 verursacht vor allem bei Kindern eine Erkrankung der Atemwege. In manchen Fällen folgt eine akute schlaffe Myelitis. EV-D68 verursacht vor allem bei Kindern eine Erkrankung der Atemwege. In manchen Fällen folgt eine akute schlaffe Myelitis. © Foto: cdc/Cynthia S. Goldsmith, Yiting Zhang Cynthia S
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Die Poliomyelitis gilt in den allermeisten Ländern als ausgerottet. In die entstandene Lücke scheinen sich seit einigen Jahren aber andere Enteroviren zu drängen, die ganz ähnliche akute schlaffe Lähmungen hervorrufen können – mit vergleichbar dramatischen Langzeitfolgen.

Seit die WHO der Poliomyelitis 1988 den Kampf angesagt hat, ist die Fallzahl um nahezu 100 % zurückgegangen. Das Ziel, die Kinderlähmung weltweit auszurotten, ist damit fast erreicht. Mit Pakistan und Afghanistan sind es nur noch zwei Länder, in denen der Erreger endemisch vorkommt, berichtete Professor Dr. ­Hans-Iko ­Huppertz von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin in Berlin. Im letzten Jahr erkrankten 900 Menschen an Kinderlähmung, von denen die WHO jeden einzelnen „persönlich“ kennt, so der Referent.

Auch Autoimmunerkrankungen können Lähmungen auslösen

Nach wie vor aber gibt es Fälle von akuter schlaffer Lähmung auch in solchen Ländern, in denen die Poliomyelitis schon seit Jahren nicht mehr aufgetreten ist. Dem können autoimmune Erkrankungen wie das Guillain-Barré-Syndrom zugrunde liegen, erläuterte Prof. ­Huppertz, oder Erreger wie Adeno-, ­Parecho-, das ­Flavi- oder das Herpes-­simplex-Virus. Vor allem aber dürften andere Enteroviren als das Poliomyelitis­virus die Auslöser derartiger Paresen sein, so der Experte.

Diese Viren bestehen aus nur vier verschiedenen Proteinen, die eine kurze einzelsträngige RNA umschließen. Da sie keine Lipidhülle besitzen, können ihnen die gängigen alkoholischen Handdesinfektionsmittel nicht viel anhaben.

Die Nomenklatur der Enteroviren ist verwirrend: Es gibt vier humanpathogene Spezies (A bis D), die sich in verschiedene Genotypen unterteilen. Neu entdeckte Typen wurden einfach mit der Spezies und einer Nummer bezeichnet, z.B. ­EV-A71 als Erreger der Hand-Fuß-Mundkrankheit. Zudem sind die alten Bezeichnungen Echovirus und Coxsackievirus nach wie vor gebräuchlich.

Enteroviren zeichnen sich durch eine breite genetische Diversität und Instabilität aus. Typischerweise entstehen während der Infektion zahlreiche genetische Varianten. In die Zellen aufgenommen werden die Erreger über eine ganze Reihe verschiedener Rezeptoren.

Etwa die Hälfte der Infektionen verläuft asymptomatisch. Es gibt eine große Bandbreite von Organmanifestationen wie Naso­pharyngitis, Herp­angina, Bronchitis, Gastroenteritis, Hepatitis, Konjunktivitis, Peri­myokarditis, dazu Hautausschläge und die Hand-Fuß-Mundkrankheit. Die Symptomatik, die durch einen bestimmten Typ ausgelöst wird, kann sich über die Jahre der Koexistenz von Virus und Mensch ändern.

Neurologische Manifestationen sind:

  • aseptische Meningitis
  • Enzephalitis
  • akute schlaffe Paresen

Für die schlaffen Paresen durch Nicht-Polio-Enteroviren gilt ebenso wie für die Kinderlähmung, dass stets eine gewisse Behinderung zurückbleibt, sofern die Erkrankung nicht tödlich ist. ­

EV-D68 ist im Stuhl nicht nachweisbar

Die Neuroinvasion der Enteroviren kann verschiedene Wege nehmen:

  • Das Virus erreicht die Muskelzellen und wird über die motorische Endplatte retrograd axonal transportiert, ähnlich wie es beim Poliovirus geschieht.
  • Die Infektion verläuft von Immunzellen über den ­Plexus ­chorioideus ins ZNS.
  • Zellen der Blut-Hirn- oder Blut-Liquor-Schranke werden infiziert.

Im Rahmen der Enterovirus-­Surveillance des RKI werden in Deutschland jährlich etwa 2.000 bis 3.000 Stuhlproben untersucht, von denen etwa 20–30 % positiv ausfallen. Zum Ausschluss einer Polio­myelitis werden die Viren typisiert. 

Volles Programm bei der Erregerdiagnostik

Bei akuter schlaffer Lähmung im Kindesalter, die nicht auf ein Trauma zurückzuführen ist, muss eine genaue Anamnese mit klarem Zeitraster erhoben werden, erklärte Prof. ­Huppertz. Unverzichtbar ist eine Lumbalpunktion für die Differenzial­diagnostik. Es interessieren Zellzahl und -typen, Eiweiß, Glukose und Anti-MOG*-Antikörper. Eine Liquorkultur sollte angelegt und eine Probe ins Referenzlabor geschickt werden, ebenso Stuhlproben und Nasopharyngealabstriche. Ergänzt wird die Diagnostik durch ein MRT der Wirbelsäule, eventuell auch des Kopfes. Zudem sollte die Nervenleitgeschwindigkeit ermittelt werden.

* Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein

Jährlich werden hierzulande zwischen 30 und 80 Fälle akuter schlaffer Lähmungen registriert. Davon sind nur etwa 5 bis 15 % enteroviruspositiv. In den vergangenen Jahren wurden 19 Typen identifiziert, vor allem ­EV-A71. Ein weiteres Virus mit weltweiter Bedeutung ist ­EV-D68, das vor allem bei Kindern eine Erkrankung der Atemwege verursacht, mitunter gefolgt von akuter schlaffer Myelitis. Als respiratorisches Virus ist ­EV-D68 nicht im Stuhl nachweisbar. Dies dürfte einer der Gründe sein, warum es der Surveillance, die auf Stuhlproben basiert, jahrelang entgangen ist.

Quelle: 15. Kongress für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin*

* Online-Veranstaltung