Anzeige

Feinstaub sorgt für doppelt so viele Tote wie angenommen

Autor: Dr. Sascha Bock

Frischluftmangel: Glaubt man den Studien, steht es schlecht um Herz und Lunge. Frischluftmangel: Glaubt man den Studien, steht es schlecht um Herz und Lunge. © iStock/Jun
Anzeige

Während Greta Thunberg jeden Freitag beharrlich demonstriert, lassen auch Forscher nicht locker und liefern zunehmend Argumente für ein Umdenken in der Klimapolitik. Neuesten Daten zufolge zieht die Luftverschmutzung vor allem das Herz-Kreislauf-System in Mitleiden­schaft­.

Schon wieder eine Hochrechnung zu Luftschadstoffen und Krankheiten, mag der ein oder andere jetzt denken. Diese aber ist anders. Und die Zahlen haben es in sich. Bisher gingen Professor Dr. Jos Lelieveld vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz und Kollegen davon aus, dass sich 4,55 Millionen der weltweiten Todesfälle im Jahr 2015 auf die Luftverschmutzung zurückführen lassen. Luftverschmutzung – darunter verstehen die Experten vor allem alveolengängigen Feinstaub, also Partikel ≤ 2,5 µm (PM2,5).

Rate in osteuropäischen Ländern besonders hoch

Mit einer umfangreicheren Datenbasis als zuvor kam das Team um den Mainzer Atmosphärenforscher nun auf 8,79 Millionen Fälle.¹ Pro 100 000 Menschen entspricht das 120 zusätzlichen Toten. Die Studie liefert auch regionale Zahlen:

  • 133 Tote in Europa (pro 100 000 Einwohner und Jahr)
  • 129 in den 28 EU-Mitgliedstaaten
  • 154 in Deutschland
  • > 200 in osteuropäischen Ländern wie Bulgarien, Kroatien, Ukraine

Insgesamt betrifft die Übersterblichkeit in Europa 790 000 Personen jährlich. In der EU stieg die Zahl im Vergleich zu älteren Schätzungen von 263 000 auf 659 000. Feinstaubbedingt sinkt demnach auch die durchschnittliche Lebenserwartung, hierzulande um 2,4 Jahre.

Grenzwerte aus aller Welt

  • empfohlene jährliche Höchstmenge für PM2,5 der WHO: 10 µg/m³
  • EU-Grenzwert: 25 µg/m³
  • USA: 12 µg/m³
  • Kanada: 10 µg/m³
  • Australien: 8 µg/m³

Der Analyse liegen zwei Rechenmodelle zugrunde. Das EMAC-Modell simuliert chemische Prozesse in der Atmosphäre. Dabei berücksichtigt es natürliche sowie menschengemachte Emissionen, z.B. durch Industrie, Straßenverkehr und Landwirtschaft. Das neue Global Exposure Mortality Model basiert auf 41 Kohortenstudien aus 16 Ländern. Es bildet die krankheitsspezifischen Hazard Ratios als Funktion der Feinstaub-Konzentration ab. Zusammen mit Bevölkerungs- und Mortalitätsdaten der WHO ergibt sich letztlich der Sterblichkeitsüberhang für sechs Kategorien: ischämische Herzkrankheit, COPD, Schlaganfall, Lungenkrebs, untere Atemwegsinfektionen und andere nicht-übertragbare Erkrankungen. In Europa spielt das kardio­vaskuläre System (KHK und Schlaganfall) mit einem Anteil von 48 % die größte Rolle, wenn es um feinstaubassoziierte Todesfälle geht (s. Grafik).

Schätzungen zufolge fordert die Luftverschmutzung in Europa jährlich 790 000 Opfer. Mindestens 48 % dieser Exzess-Todesfälle ereignen sich bei Menschen mit kardiovaskulären Leiden (koronare Ischämie, Schlaganfall und andere nicht-übertragbare Krankheiten wie PAVK). 20 % fallen auf pulmonale Ursachen. Die größten Feinstaub-Schleudern finden sich in Industrie, Landwirtschaft und Verkehr.

Eigentlich fallen Herz- und Gefäßschäden noch viel stärker ins Gewicht, vermuten die Forscher. Denn in der Kategorie „andere Erkrankungen“ verstecken sich zumindest teilweise Leiden, die zur kardiovaskulären Mortalität beitragen. Dauerhaft verschmutzte Luft zu atmen, setzt das Endothel nachweislich unter oxidativen Stress. Eine PM2,5-induzierte Inflammation kann dazu beitragen, dass sich z.B. Bluthochdruck und Atherosklerose entwickeln bzw. verschärfen. Die Evidenz für eine Kausalität zwischen Feinstaubexposition und Herz-Kreislauf-bedingter Sterblichkeit wächst stetig. Offenbar machen eher chronische als akute Effekte dem Körper zu schaffen. Einer Langzeitstudie zufolge erhöht ein Anstieg der PM2,5-Konzentration um 5 µg/m³ im Jahresmittel die Rate nicht-letaler koronarer Ereignisse um 13 %.

Die sichere Schwelle liegt bei 2–3 µg/m³

Gründe für die europaweit hohe Zahl an Todesfällen pro 100 000 Einwohnern sehen die Autoren in der Kombination aus schlechter Luftqualität und hoher Bevölkerungsdichte. Dass Feinstaub tatsächlich ein Gesundheitsrisiko birgt, kommt in Leitlinien zu kurz, bemängeln sie. Zumal die Luftverschmutzung gefährlicher sein könnte als Tabakrauchen. Der derzeitige Grenzwert der EU liegt wohl noch zu hoch. Sogar die von der WHO angestrebten maximalen 10 µg/m³ übersteigen die sichere Schwelle von 2–3 µg/m³. In einer Pressemitteilung bekräftigen Prof. Lelieveld und Mitautor Professor Dr. Thomas Münzel, Universitätsmedizin Mainz, die Forderungen, die sich aus ihrer Studie ergeben:²
  • PM2,5-Emission deutlich unter 10 µg/m³ senken
  • fossile Brennstoffe durch saubere, erneuerbare Energien ersetzen
  • Emission aus der Landwirtschaft begrenzen
In Deutschland beispielsweise entstehen bis zu 45 % des Feinstaubes durch das Agrarwesen. Zudem haben die Experten kalkuliert, dass sich der Mortalitätsüberhang in Europa um 55 % senken ließe – vorausgesetzt, es gelingt ein Wechsel zu erneuerbaren Energiequellen, der den Zielen des Pariser Klimaabkommens entspricht. Kritik an derartigen Hochrechnungen kommt vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung.³ Das Konzept der „Anzahl vorzeitiger Todesfälle“ sei ein Musterbeispiel einer Unstatistik, heißt es in der „Unstatistik des Monats“. In dieser Rubrik werden Daten und deren Interpretation hinterfragt. Laut der Gastautorin Katharina­ Schüller von STAT-UP, einem Anbieter für statistische Beratung und Data Science, wisse man nicht, wie viele Menschen vorzeitig gestorben sind, sondern nur, um wie viel kürzer sie im Schnitt gelebt haben. Es handele sich letztlich um Modellergebnisse, die auf Annahmen beruhen. Mathematische Annäherungen sollen den Unterschied in der Lebensdauer plausibel erklären. Hierbei ergibt sich eine hohe Messunsicherheit von mindestens ± 50 %. Prof. Lelieveld und seine Kollegen räumen diese statistische Unsicherheit durchaus ein und beziffern sie auf etwa 50 % nach oben und unten. Nichtsdestotrotz würden ihre Ergebnisse für eine viel höhere Krankheitslast sprechen als bisher angenommen.

Quellen:
¹ Lelieveld J et al. Eur Heart J 2019; online first
² Pressemitteilung der European Society of Cardiology vom 12.03.2019
³ Pressemitteilung des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung vom 04.02.2019

Medical-Tribune-Bericht