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Geriatrische Diabetespatienten: Versorgungslücken schließen, Angehörige und Pflegekräfte schulen

Autor: Maria Weiß

Sehfähigkeit, Feinmotorik und Kognition: Der Geld-Zähl-Test zeigt an, ob ein geriatrischer Diabetespatient noch mit der Insulintherapie zurechtkommt. Sehfähigkeit, Feinmotorik und Kognition: Der Geld-Zähl-Test zeigt an, ob ein geriatrischer Diabetespatient noch mit der Insulintherapie zurechtkommt. © iStock/kasto80
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Die komplexe Diabetestherapie Hochbetagter überfordert nicht nur Betroffene. Auch Angehörige und Pflegepersonal können aufgrund der geriatrischen Multimorbidität verunsichert sein. Diese Aspekte sind nun zu beachten.

Hierzulande gibt es etwa eine Million pflegebedürftige Diabetespatienten, davon etwa 100 000 mit Typ 1 „alt gewordene“, erklärte Dr. Jürgen­ Wernecke von der Klinik für Diabetologie am Agaplesion Diakonieklinikum Hamburg.

In Altenheimen bricht meist die klassische Betreuung durch Hausarzt, Diabetologen und Diabetesassistentin weg. Gleichzeitig sind Pfleger mit der intensivierten Insulintherapie und modernen Systemen wie Insulinpumpe oder CGM oft noch gar nicht vertraut.

Hinzu kommt, dass Ältere mit Diabetes häufig ihre Behandlung nicht mehr im Griff haben, insbesondere aufgrund kognitiver Einbußungen. So weisen Patienten mit Typ-1-Diabetes ein fast doppelt so hohes Risiko für eine Demenz auf wie Menschen ohne die Stoffwechselerkrankung. Außerdem werden ihre kognitiven Fähigkeiten oft überschätzt. Dies verdeutlicht u.a. die GERODIAB-Studie, mit 987 mindestens 70-Jährigen mit Diabetes Typ 2.

Zielwerte auf Basis der Lebenserwartung anpassen

Etwa jeder Vierte litt laut entsprechender Testung unter einer mittelgradigen Demenz. Die subjektive Einschätzung der Studien­ärzte hatte hingegen nur für 11 % eine kognitive Einschränkung und für 3 % eine Demenz ergeben. Senioren sind auch häufiger von Depressionen betroffen, die v.a. unbehandelt mit einem deutlich erhöhten Mortalitätsrisiko einhergehen.

Füße und Augen prüfen

Fußpflege oder Prophylaxe können viele Senioren nicht mehr selber leisten. Besonderes Augenmerk richtet sich demnach auf die Füßen, da häufig das diabetische Fußsyndrom auftritt. Auch wenn die Multimorbidität Diagnostik und Therapie oft erschwert und die Gratwanderung zwischen Entlastung und Mobilisierung eine Herausforderung darstellt, dürfe es nicht zu einem therapeutischen Nihilismus kommen, forderte Dr. Wernecke. Als wichtig erachtet er zudem regelmäßige Untersuchungen durch den Augenarzt. Fernsehen bedeutet für viele Pflegebedürftige einen Rest an Lebensqualität, der nicht durch den Verlust des Augenlichts auch noch verloren gehen sollte.

Im Fokus der Therapie steht die Sicherheit und damit verbunden Hypoglykämien und Stürze zu vermeiden. Deshalb empfiehlt der Experte­, HbA1c-Zielwerte anzupassen:
  • relativ gesunde, kognitiv nicht Eingeschränkte mit einer Lebenserwartung von mehr als 15 Jahren: 6,5–7,5 %
  • sehr alte, Multimorbide oder kognitiv leicht Eingeschränkte: < 8 %
  • Pflegebedürftige oder Demente: < 8,5 %
  • kurz vor dem Tod: Symptome lindern, HbA1c-Wert bedeutungslos
In Europa herrscht diesbezüglich noch Nachholbedarf. Von den in einer Studie untersuchten 7597 Diabetespatienten unterschieden sich die HbA1c-Werte nicht wesentlich bei Menschen, die älter als 65 Jahren waren von denen jüngerer. Mehr als die Hälfte der Älteren wies einen Wert ≤ 7,0 % auf. Sulfonylharnstoffe, die mit einem deutlich erhöhten Hypoglykämierisiko einhergehen, waren zudem bei Älteren verbreitet. Die Ernährungsziele ändern sich ebenfalls im Alter. Nachdem insbesondere Patienten mit Typ-2-Diabetes fast ihr ganzes Leben gegen überflüssige Pfunde gekämpft haben, geht es jetzt darum, Untergewicht und Mangelernährung zu vermeiden. Demnach gehört die Gewichtsreduktion nicht mehr zu den Therapiezielen, betonte der Experte. Er rät Betroffenen, schnell resorbierbare Kohlenhydrate möglichst zu vermeiden. Vor einer Insulingabe sollte man im Alter nicht zurückschrecken – auch wenn das Handling nicht immer einfach ist. Ob ein Patient mit der Therapie noch zurechtkommt, lässt sich ganz einfach mit dem Geld-Zähl-Test feststellen.

Geld-Zähl-Test: 9,80 Euro sollen es sein

Patienten zählen beim Geld-Zähl-Test aus einem entsprechend gefüllten Geldbeutel einen definierten Betrag von 9,80 Euro. Währenddessen misst man die Zeit in Sekunden. Abgebrochen wird nach drei Fehlversuchen oder mehr als 300 Sekunden. Werte:
  • < 45 Sekunden: selbstständig
  • 45–70 Sekunden: hilfsbedürftig
  • > 70 Sekunden: erheblich hilfsbedürftig

Hiermit werden Sehfähigkeit, Feinmotorik und Kognition abgeschätzt. Dr. Wernecke bekräftigte: „Ein regelmäßiges geriatrisches Assessment ist bei Älteren mit Diabetes ein Muss.“

Ambulante Pflegekräfte spritzen Insulin oft in die falsche Stellen

Fällt es Senioren schwer, die notwendigen Spritzen selbst zu setzen, kommen oft ambulante Pflegekräfte ins Spiel. Doch diese sind zu 80 % nicht examiniert. Häufig unterlaufen ihnen Fehler, z.B. hinsichtlich der Wahl der Spritzstellen, die dann eine Entgleisung zufolge haben können.

Kongressbericht: Diabetes Herbsttagung 2019