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Fehlregulation Immunsystem auf Irrwegen

Autor: Dr. Melanie Söchtig

Eine Fehlregulation des Immunsystems zieht sich meist über die gesamte Entwicklung des Kindes. Eine Fehlregulation des Immunsystems zieht sich meist über die gesamte Entwicklung des Kindes. © Science Photo Library/Aj Photo
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Die Reifung des Immunsystems wird von der Genetik und Epigenetik, von der Umwelt und dem Mikrobiom bestimmt. Ein komplexes Zusammenspiel verschiedenster Faktoren entscheidet darüber, ob ein Kind eine Allergie oder eine Toleranz entwickelt.

Eine allergische Erkrankung beginnt bereits im Mutterleib. Denn schon in der elften
Gestationswoche setzt die IgE-Produktion beim Fötus ein. Erste klinische Zeichen und
allergische Sensibilisierungen sind dann aber meist erst ab dem dritten Lebensmonat
nachweisbar.

Von der Nahrungsmittel- zur Inhalationsallergie

Recht treffend beschreibt der Begriff des atopischen Marsches den natürlichen Verlauf
einer allergischen Erkrankung im Kindesalter: Zunächst finden sich Sensibilisierungen
gegen Allergene aus Nahrungsmitteln, was sich klinisch zumeist als atopische Dermatitis mit dem typischen Juckreiz und den charakteristischen Ekzemen zeigt. Im Lauf der ersten Lebensjahre gehen die Sensibilisierungen auf Nahrungsallergene zurück. Stattdessen kommt es oft zur Zunahme spezifischer IgE gegen inhalative Allergene – ein allergisches Asthma bahnt sich an.

Der chronischen Atemwegsentzündung, die meist im frühen Kindesalter oder in den ersten Jahren der Schulzeit diagnostiziert wird, gehen häufig reversible obstruktive Bronchitiden voraus. Als Risiko­faktoren für allergisches Asthma bronchiale gelten:

  • positive Familienanamnese in Bezug auf allergische Erkrankungen
  • atopisches Ekzem in den ersten Lebensjahren
  • frühzeitige Sensibilisierung gegen Nahrungsmittel- und Inhalationsallergene

Bei sensibilisierten Kindern kommt es als Reaktion auf die inhalativen Allergene häufig parallel zur allergischen Rhinitis. Unter Umständen tritt diese in Verbindung mit einer
Konjunktivitis auf. In der Regel sind die jungen Patienten dann bereits im Schul- oder
Teenageralter.

Aufgrund der engen Verbindung der beiden Erkrankungen werden allergische Rhinitis und Asthma bronchiale heute als zwei unterschiedliche Formen ein und derselben atopischen Entität aufgefasst, erläutert Prof. Dr. ­Ludger ­Klimek vom Zentrum für Rhinologie und Allergologie in Wiesbaden.

Mehr als 80 % der Menschen mit Asthma leiden zugleich unter ­einer allergiebedingten
Entzündung der Nasenschleimhäute
, bis zu 40 % der Patienten mit allergischer ­Rhinitis
haben auch Asthma. Beide Erkrankungen können durch IgE vermittelt werden. Und mit Pollen, Milben, Schimmelpilzen und Tier­epithelien sind auch die auslösenden Faktoren
dieselben, beschreibt Prof. ­Klimek die Gemeinsamkeiten.

Pathophysiologisch liegt den al­lergischen Erkrankungen eine Fehlregulation der Zellen
des angeborenen und des erworbenen Immunsystems zugrunde. Als differenzierte
Effektorzellen des adaptiven Immunsystems kommt den T-Zellen eine entscheidende
Rolle bei der Antigenerkennung und -abwehr zu. Sie werden grob in CD4-positive und CD8-positive T-Zellen unterteilt. Zu den CD4-positiven T-Zellen gehören T-Helferzellen (Th), follikuläre T-Helferzellen und regulatorische T-Zellen.

Kleines Who’s Who der T-Zellen

Den T-Zellen kommt bei der zellvermittelten Antigenerkennung und -abwehr eine
entscheidende Rolle zu. Einige ausgewählte T-Zell-Untergruppen und ihre Bedeutung bei der Allergieentstehung sind:
Regulatorische T-Zellen sind für das Immungleichgewicht wichtig und können
überschießende Immunreaktionen unterdrücken. Im Nabelschnurblut atopischer Mütter ist ihre Anzahl gemindert, bei älteren Menschen ist sie – wohl als Gegenreaktion zu vermehrter allergischer Inflammation – erhöht. Th9-Helferzellen sind direkt an der Pathogenese des ­Asthma ­bronchiale beteiligt. Sie sezernieren hauptsächlich IL-9 und verstärken damit die Entzündungsreaktion. Th17-Helferzellen sind an der Entstehung zahlreicher allergischer und Autoimmunerkrankungen beteiligt. Über IL-17 sorgen sie für Reifung, Migration und Funktion neutrophiler Granulozyten und treiben damit die bronchiale Hyperreagibilität an. Th22-Helferzellen sorgen bei atopischer Dermatitis, Kontaktdermatitis und Psoriasis für Ruhe. Über IL-22 dämpfen die Th22-Zellen die allergische Immun­antwort und fördern die Regeneration der Epithelzellen.

Zahlreiche exogene Faktoren können prä- und postnatal die Entstehung von Allergien begünstigen, aber auch hemmen. Der sogenannten Hygienehypothese folgend haben insbesondere mikrobielle Stimuli einen schützenden Effekt. So scheint unter anderem der regelmäßige Verzehr von Rohmilch, der häufige Aufenthalt in Stall oder Scheune und enger Kontakt zu vielen Tieren vor Allergien zu ­schützen.

Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das pulmonale Mikrobiom. So wurde ein erhöhtes Risiko für Asthma bronchiale durch die Besiedlung des Hypopharynx mit Streptococcus pneumoniae, Haemophilus influenzae und Moraxella catarrhalis bei Neugeborenen festgestellt. Auch ein artenarmes Darmmikrobiom scheint Allergien zu begünstigen. Zu den exogenen Faktoren, die schon vor der Geburt das Allergierisiko eines Kindes erhöhen können, zählen unter anderem Atopie der Mutter und die Exposition gegenüber Tabakrauch.

Eine entscheidende Rolle kommt den Genen zu. Im Rahmen genomweiter
Assoziationsstudien und anhand der detaillierten Untersuchung einzelner DNA-Abschnitte konnten in den vergangenen Jahrzehnten Genregionen identifiziert werden, die mit der Entstehung von Allergien in Zusammenhang stehen.

Umwelt und Genetik wirken zusammen

Ein Beispiel hierfür ist die Region q21 auf Chromosom 17, die mit Asthma im Kindesalter assoziiert ist. Darüber hinaus scheinen Veränderungen in Th1- und Th2-Genen sowie Polymorphismen des ­Toll-like ­Rezeptors und des Interleukin-10 atopische Erkrankungen zu fördern.

Möglicherweise nehmen die verschiedenen Umweltfaktoren über die sogenannte
epigenetische Regulation Einfluss auf das Immunsystem und damit auf die
Allergieentstehung.
Das kann über Modifikationen der DNA-Methylierung geschehen, über Veränderungen an den Histonen oder über die Effekte kleiner nicht-kodierender RNA-Moleküle, der sogenannten microRNA.

Quelle: Klimek L. Internist 2022; 63: 467-475; DOI: 10.1007/s00108-022-01327-7