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Medienabhängigkeit und Onlinespielsucht: „Wie viel ist denn nun normal?“

Autor: Friederike Klein

Ein reales Problem durch Onlinespiele: In der virtuellen Welt klappt‘s mit dem Englisch, in der Schule nicht. Ein reales Problem durch Onlinespiele: In der virtuellen Welt klappt‘s mit dem Englisch, in der Schule nicht. © iStock.com/Green Apple Studio
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Der Übergang von der intensiven Beschäftigung mit digitalen Medien hin zur Abhängigkeit ist fließend. Diagnostik und Therapie müssen berücksichtigen, dass die Nutzung zum Alltag gehört. Es kann also keine vollständige Abstinenz geben.

Fast alle Jugendlichen in Deutschland verfügen heute über Smartphone, Computer oder Laptop sowie einen Internetzugang. Die Zeit, die junge Menschen im Alter zwischen 12 und 19 Jahren nach eigener Einschätzung online verbringen, hat sich von 2006 bis 2016 verdoppelt. Derzeit liegt sie bei 200 Minuten pro Tag. Da wundert es nicht, dass Dr. Susanne Pechler, Ambulanz für Medienabhängigkeit am Klinikum München-Ost, von vielen Eltern und Patienten gefragt wird: „Wie viel Konsum ist denn nun normal?“

Dr. Pechler betonte, dass bei den meisten Freizeitnutzern keine Erkrankung vorliege und dass man den Gebrauch von Computer und Internet nicht pathologisieren solle. Auch bei problematischer Nutzung mit sozialem Rückzug liege noch keine behandlungsbedürftige Störung vor. Es gibt allerdings gewisse Faktoren, die eine zunehmend krankhafte Internetnutzung befördern. Dazu gehören

  • Selbstunsicherheit,
  • Ängstlichkeit,
  • Selbstwertmangel,
  • Depressivität,
  • Prokrastinationsneigung („Aufschieberitis“) und
  • hohe Online-Selbstwirksamkeit.

Verschiedene Mechanismen nehmen Kinder und Jugendliche bei ihren Spielen im Netz gefangen. Schon die Programme für die Jüngeren arbeiten mit einer intermittierenden Verstärkung. Das funktioniert ähnlich wie eine Therapie, meinte Dr. Pechler: Zu Beginn kann man nicht verlieren. Dann muss man zunehmend häufiger und länger Versuche starten, um bis zum nächsten Level zu kommen. Die Kinder und Jugendlichen geraten dabei quasi in einen Flow, meinte Dr. Pechler.

Eine schwammige Diagnose

Der DSM-5 definiert Kriterien für eine Internetspielsucht, die sich teilweise von denen bei substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen ableiten. Allerdings handele es sich dabei lediglich um eine Forschungsdiagnose, betonte Dr. Pechler. Im ICD-11 wird die Medienabhängigkeit unter „Erkrankungen durch abhängiges Verhalten“ subsumiert. Hier wird auch zwischen Offline- und Online-Spielen unterschieden. Grund ist, dass bei den Onlinespielen die Akteure durch Kooperation mit anderen noch stärker im Spiel gehalten werden. Auch wenn die Diagnose „Medienabhängigkeit“ nicht sehr valide ist, hält Dr. Pechler sie in der Praxis für sehr nützlich: Man könne Betroffenen dann meist sehr gut helfen. Selbsttests und Informationen gibt es unter: www.erstehilfe-internetsucht.de

Das Immersionserleben, das Kinder immer haben, unterstützt das Zurücktreten der realen Welt hinter das virtuelle Erlebnis. Das kann dazu führen, dass das virtuelle Geschehen dem tatsächlichen vorgezogen wird. Das wird unterstützt durch Spiele mit Avataren, bei denen das „Selbst“ in der virtuellen Welt idealisiert wird. Es kann zu einer Projektion aller positiven Aspekte in den Avatar und aller negativen Aspekte in die reale Welt kommen. Diese ausgeprägte Dichotomie zwischen der Wirklichkeit und dem Spiel kann laut Dr. Pechler soweit gehen, dass die Kinder sich im Spiel prima auf Englisch orientieren und verständigen können, in der Schule dagegen überhaupt nicht. Es gibt erste systematische Therapieverfahren bei Medienabhängigkeit. Bislang richtet sich die Behandlung aber nach den „Basics“:
  • Rahmenbedingungen klären
  • Beziehungsaufbau
  • Veränderungsmotivation
  • funktionaler Computergebrauch und Medienkompetenz
  • Psychoedukation nach dem biopsychosozialen Verstehensmodell
  • Ressourcenorientierung und -aktivierung
  • soziales Kompetenztraining
  • Rückfallprävention
  • Nachsorge
Ein wesentlicher Bestandteil ist der Aufbau von Medienkompetenz, um einen funktionalen Gebrauch des Computers und des Internets zu ermöglichen. Dabei kann ein Ampelmodell eingesetzt werden:
  • Rot steht für Aktivitäten, die keinesfalls ausgeübt werden sollen, z.B. „mein“ Spiel
  • Gelb markiert die riskante Beschäftigung: YouTube-Videos, Facebook
  • Grün signalisiert unbedenkliche Aktivitäten: E-Mails, Recherche im Studium, Skype
Im Übrigen sei es wichtig, die häufigen Komorbiditäten zu beachten. „Man kann die Medienabhängigkeit gut behandeln“, betonte Dr. Pechler. „Aber das geht nicht linear nach dem Motto ,Erst die Depression, dann die Medienabhängigkeit‘. Man muss systemisch ansetzen!“

Quelle: 19. Interdisziplinärer Kongress für Suchtmedizin