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Diagnose Cybermissbrauch Opfer digitaler Gewalt ernst nehmen

Autor: Sabine Mattes

Verantwortlich für diese sog. „Share­gewaltigung“ sind „immer diejenigen, die das Bild weiterverbreiten, und nicht etwa die Opfer“, betont die Autorin. Verantwortlich für diese sog. „Share­gewaltigung“ sind „immer diejenigen, die das Bild weiterverbreiten, und nicht etwa die Opfer“, betont die Autorin. © iStock/ClarkandCompany
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Digitale Medien sind aus dem Leben von Kindern und Jugendlichen nicht mehr wegzudenken. Ein großer Teil der Kommunikation unter Jugendlichen läuft über das Smartphone. Auch sexuelle und intime Inhalte werden geteilt. Doch zu großes Vertrauen in die digitale Intimität kann schnell gefährlich werden.

Etwa 98 % der 12- bis 19-Jährigen besitzen ein Smartphone. Durch ihr Kommunikationsverhalten setzen sie sich „digital häufig Risiken aus, die sie aufgrund ihres Alters und ihrer Reife nicht einschätzen können“, schreibt Julia­ von ­Weiler, Innocence in Danger e.V. in Berlin. Denn das Netz bietet auch sexuellen Handlungen eine Plattform. Diese müssen aber differenziert betrachtet werden.

„Sexting“ beschreibt das Ver­senden von sexuellen Inhalten per Textnachricht. Geschieht das in gegenseitigem Einverständnis und auf Augenhöhe, ist dagegen erstmal nichts einzuwenden. Probleme entstehen allerdings, wenn Bilder oder Nachrichten ohne Zustimmung mit Dritten geteilt werden. Verantwortlich für diese sogenannte „Share­gewaltigung“ sind „immer diejenigen, die das Bild weiterverbreiten, und nicht etwa die Opfer“, betont die Autorin. Oft fände allerdings eine Schuldumkehr statt. Die oder der Betroffene hätte ja wissen müssen, was passieren kann, heißt es dann. Prävention und Intervention sollten daher nicht nur beim Opfer, sondern auch – besonders im jugendlichen Umfeld – bei den Tätern ansetzen: Was bedeutet es für mein Gegenüber, wenn ich so handle?

Die digitale Gewalt unter Gleichaltrigen nimmt stetig zu, schreibt von Weiler. Gefördert wird das durch den allgegenwärtigen „digitalen Exhibitionismus“, der durch Plattformen wie Facebook, WhatsApp oder Instagram entsteht. Bereits mehr als ein Viertel aller Jungen und Mädchen im Alter von elf Jahren postet Selfies auf der Suche nach möglichst vielen „Likes“. Mit 13 Jahren sind es bereits über 40 % bzw. 60 %. Doch die Kommentarfunktion unter den Bildern lässt auch Platz für verletzende oder anzügliche Äußerungen, die jeder lesen kann.

Täter suchen gezielt Kinder, die sich alleine fühlen

Die exzessive Selbstdarstellung in den sozialen Medien bietet auch sogenannten Onlinetätern neue Wege, mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt zu treten. Die Täter sind meist männlich, gebildet und in der Regel eher jung, so die Ergebnisse einer Studie*. Sie suchen u.a. im Internet gezielt nach Kindern und Jugendlichen, die sich alleine oder nicht genügend wertgeschätzt fühlen, und zu denen sie eine emotionale Beziehung aufbauen können. Der direkte und permanente Kontakt macht es den Tätern einfach, ihre Opfer einzuwickeln und zu manipulieren – meist unbemerkt von den Bezugspersonen.

Die betroffenen Kinder sehnen sich nach Zuwendung und Anerkennung und übersehen dabei leicht mögliche Warnzeichen. Eine Situation, die ihnen in der „realen Welt“ verdächtig erscheinen oder Zweifel wecken könnte, wirkt online zunächst harmlos. Damit öffnet sich die Tür für Cybergrooming** und sexuellen Missbrauch. Und die Alarmglocken klingeln oft zu spät.

Aufkeimenden Widerstand ersticken die Täter, indem sie die Vertrauensbeziehung ausnutzen und Schuldgefühle wecken – oder Drohungen aussprechen. Versendete oder aufgezeichnete sexuelle Inhalte lassen sich dabei leicht als Druckmittel einsetzen. Die Opfer schweigen aus Scham und aus Angst, vor der ganzen Welt bloßgestellt zu werden. Solche Methoden findet man auch bei Fällen im familiären Umfeld oder im Bekanntenkreis.

Gelangt die Dokumentation einer Misshandlung ins Netz, führt das „zu einer Endlosschleife der Traumatisierung für die Opfer“, schreibt von Weiler. Die Vergehen mutieren zu einer „öffentlichen Tatsache, die nie mehr gelöscht werden kann“. Alleine im Jahr 2018 wurden mehr als 45 Millionen Missbrauchsdarstellungen im Internet aufgedeckt. In einer Befragung befürchteten 70 % der 150 Betroffenen, dass man sie in Aufzeichnungen, die von ihrer sexuellen Misshandlung existieren, erkennen könne. 30 Teilnehmer mussten diese Erfahrung bereits durchleben.

Was kann man als Arzt tun? Für die Opfer digitaler Gewalt ist es wichtig, dass man sie ernst nimmt, versucht, die Ausmaße des Geschehens zu verstehen, und eingreift – unter Umständen nachdem man sich zuvor selbst Unterstützung geholt hat. Taten von Gleichaltrigen darf dabei nicht weniger Bedeutung zukommen. Therapeutische Beratung kann in Erwägung gezogen werden, muss aber nicht zwingend erforderlich sein, so von Weiler.

Damit solche Situationen gar nicht erst entstehen, bedarf es vor allem des Interesses der Eltern am digitalen Leben ihrer Kinder. Ein Verständnis für die Möglichkeiten und Gefahren von Onlinemedien hilft, das Gespür für potenzielle Bedrohungen zu schärfen. Gleichzeitig erlaubt es aber auch, einzuschreiten, falls sich abzeichnen sollte, dass das Kind selbst zum Täter zu werden droht.

Sharegewalt stoppen

Das Schulungsformat „Stoppt Sharegewalt“ vermittelt praxis- und handlungsorientiertes Wissen zur Intervention bei sexualisierter Cybergewalt. Es beinhaltet außerdem individuell angepasste Strategien zu Prävention und digitalem Kinderschutz, je nach Institution. Die Zielgruppe bildet psychologisches, pädagogisches und therapeutisches Fachpersonal.

Große Wissenslücken bei Schulen und Beratungsstellen

Eine Umfrage von Innocence in Danger e.V. aus den Jahren 2015 bis 2018 an deutschen Schulen zeigt, dass sowohl im Bereich der Prävention als auch Intervention zu digitaler sexueller Gewalt große Lücken bestehen. Auch Fachberatungsstellen haben diesbezüglich enormen Nachholbedarf. Der Verein entwickelte aus diesem Grund das Schulungsformat „Stoppt Sharegewalt“ (siehe Kasten).

* www.mikado-studie.de/tl_files/mikado/upload/MiKADO_Zusammenfassung.pdf
** Beim Cybergrooming werden digitale Medien eingesetzt, um die Opfer bei einem Treffen oder vor einer Webcam zu sexuellen Handlungen zu bewegen.

Quelle: von Weiler J. internistische praxis 2021; 64: 301-309