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Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche durch spezifische Bedingungen begünstigt

Autor: Dr. Angelika Bischoff

Laut Akten sind 4,4 % der Priester des sexuellen Missbrauchs von Kindern beschuldigt. Laut Akten sind 4,4 % der Priester des sexuellen Missbrauchs von Kindern beschuldigt. © iStock/djedzura
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Die katholische Kirche ist wohl die Institution, die am häufigsten im Zusammenhang mit sexuellem Kindesmissbrauch genannt wird. Die Ursachen dafür scheinen zumindest teilweise dem System inhärent zu sein.

Sexueller Missbrauch von Minderjährigen findet häufig im familiären Umfeld statt – doch auch im institutionellen Kontext kommt es immer wieder zu Fällen. Am besten untersucht und wahrscheinlich am häufigsten diskutiert sind entsprechende Übergriffe in der katholischen Kirche. Im Rahmen einer von der Deutschen Bischofskonferenz beauftragten Studie haben Wissenschaftler aus Mannheim und Heidelberg aus 38 156 Personalakten der Jahre 1946–2014 insgesamt 1670 katholische Kleriker ermittelt (4,4 %), die wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt wurden. Sie verglichen 67 Fälle von verurteilten kirchlichen Tätern mit 52 Verurteilten anderer Institutionen.

Von den verurteilten Klerikern waren 84 % Diözesanpriester und 16 % Ordenspriester. Die Täter aus der Vergleichsgruppe waren (Mehrfachnennungen waren möglich): Sportlehrer (15 %), andere Lehrer (40 %), Erzieher (4 %), außerschulische Lehrer (z.B. Musik) oder Trainer (je 10 %), Freizeitbetreuer (12 %) und Verantwortliche anderer Religionsgemeinschaften (15 %). Alle Kleriker waren Männer und ledig. Die Vergleichsgruppe bestand zu 98 % aus Männern, 34 % davon waren ledig, 58 % verheiratet, 6 % lebten in eheähnlicher Gemeinschaft und 2 % waren geschieden.

Die Untersuchung zeigte, dass die Taten von Priestern nicht harmloser sind und die Anzahl der Betroffenen pro verurteiltem Täter nicht geringer ist als bei Übergriffen innerhalb anderer Institutionen. Die rigide Sexualmoral der katholischen Kirche, ihre Position zur Homosexualität und die Forderung des Zölibats scheinen also offenbar keinen Schutz zu bieten – im Gegenteil.

Deutliche Vorliebe für Jungen

Kirchliche Würdenträger vergingen sich deutlich häufiger an männlichen Opfern als die Täter in der Vergleichsgruppe. Bis 1994 waren 77 % der durch Priester Missbrauchten Jungen. Dieser Anteil blieb auch danach konstant, obwohl zunehmend mehr Mädchen – inzwischen über 50 % – Ministrantendienste übernahmen. Mädchen wurden nach 1994 sogar weniger zu Missbrauchsopfern als vorher (24 % vs. 38 %). Die Präferenz der Kleriker für Jungen kann also nichts damit zu tun haben, dass der Zugriff auf männliche Opfer leichter ist. Dagegen zeigten Täter aus anderen Institutionen eine klare Vorliebe für Mädchen (73 %).

Und es gibt weitere Unterschiede: Opfer von katholischen Kirchenmännern wurden häufiger über einen längeren Zeitraum missbraucht. Bei 47 % vs. 25 % dauerte der Missbrauch mindestens zwei Jahre. Und schließlich hat die Kirche sich mehr in der Vertuschung und Verharmlosung der Taten engagiert und weniger an ihrer Aufklärung mitgewirkt als andere Institutionen. Einzelne Kollegen innerhalb der katholischen Kirche haben in 27 % der Fälle versucht, die Taten zu verharmlosen. In der Vergleichsgruppe taten dies 15 %.

Jeder zweite Fall offiziell verharmlost oder vertuscht

Hinweise auf eine offizielle Verharmlosung oder Vertuschung durch die Institution gab es in 52 % vs. 6 % der Fälle. Gerade vor dem Hintergrund der kirchlichen Sexualitätsnormen wurde die Konfrontation mit Missbrauchsbeschuldigungen in der katholischen Kirche offenbar als systemgefährdend wahrgenommen.

Insgesamt bietet das institutionelle System der katholischen Kirche offenbar gute Rahmenbedingungen für den sexuellen Missbrauch Minderjähriger, schließen die Autoren um Professor Dr. Harald­ ­Dressing vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim. Präventionskonzepte müssen solche spezifischen Bedingungen mehr berücksichtigen, fordern sie. Das gilt für die katholische Kirche sowie für andere Institutionen wie Schulen und Sportvereine.

Quelle: Dreßing H et al. Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89: 97-102; DOI: 10.1055/a-1222-1690