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Entscheidender Faktor beim sexuellen Missbrauch durch Geistliche ist Macht

Autor: Michael Brendler

Täter waren fast nur die zölibatär lebenden Priester, nicht die Diakone. Täter waren fast nur die zölibatär lebenden Priester, nicht die Diakone. © iStock/ChristianChan
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Geistliche werden im Vergleich zur Allgemeinheit nicht überdurchschnittlich oft sexuell straffällig. Fallzahlen belegen aber, dass die Präventionsbemühungen der Kirche bisher kaum Besserung brachten.

Seit 1945 finden sich insgesamt Hinweise auf den sexuellen Missbrauch von 3677 Minderjährigen (im Mittel ca. 12 Jahre alt), begangen von 1670 zuvor unauffälligen Geistlichen. Das geht aus 38 156 Personalakten von katholischen Priestern, Mönchen und Diakonen hervor, die im Rahmen der MHG-Studie gesichtet wurden.

Das Team um Professor Dr. Harald­ Dreßing vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim versuchte in einer Subgruppenanalyse den Nutzen der 2010 eingeführten Präventionsmaßnahmen und die allgemeine Lage zu bewerten. Sie berücksichtigten nur Fälle von 2009 bis 2015, in denen die Opfer jünger als 14 Jahre waren und bei denen die Tat im Untersuchungszeitraum lag.

Sexuell unreif, narzisstisch und pädophil

Vermerke in den Akten der Diakone konnten die Wissenschaftler ab 2010 nicht mehr finden. Bemerkenswert sei dagegen, dass die Zahl der beschuldigten Priester bis 2015 trotz der Bemühungen der Deutschen Bischofskonferenz nicht zurückging. Die Auswertung ergab eine Rate von 25,5–55,5/100 000 Priestern, die erstmals eines sexuellen Übergriffs beschuldigt, sowie 8,4–31,7 unter 100 000, die deswegen angezeigt wurden. Die Quote der Strafanzeigen entspreche etwa den Tatverdächtigungsbelastungszahlen der männlichen Allgemeinbevölkerung aus der Kriminalstatistik.

Der Vergleich ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, warnen Prof. Dreßing und Kollegen: In beiden Fällen sei von einer stark abweichenden Dunkelziffer auszugehen. Beispielsweise sei man einerseits auf Hinweise für Dokumentbeseitigungen in der MHG-Studie gestoßen. Auf der anderen Seite stammen Täter aus der Allgemeinbevölkerung oft aus dem familären Umfeld der Opfer. Diese haben dadurch wesentlich stärkere Hemmungen, Strafanzeige zu stellen.

Auch wenn die absolute Zahl der Missbrauchsfälle innerhalb von Familie, Schule oder Sportverein höher ist, Priester stehen als Vermittler kirchlicher Werte besonders in der Kritik. Gleichzeitig hat die aktuelle Arbeit das Argument entkräftet, dass die moralischen Anforderungen an das Amt einen Priester von der Allgemeinbevölkerung unterscheiden.

Eine Untersuchung im Jesuitenorden beschreibt die Beschuldigten als sexuell unreif, narzisstisch, zur zwanghaften Machtausübung neigend sowie pädophil veranlagt. Andere Studien sehen einen Zusammenhang zur hohen psychosozialen Belastung der Täter. Das Team fügt einen weiteren Aspekt hinzu: Es waren fast nur die zölibatär lebenden Priester und nicht die in dieser Hinsicht ungebundenen Diakone, die als Täter vermerkt wurden. Der zusätzlich bestätigte Trend: Diakonen wird deutlich weniger klerikale Macht zugewiesen.

Prävention soll sich mehr auf den Priesterstand fokussieren

Da primär die Quote der Priester unverändert blieb, raten sie, den Priesterstand auch in der Prävention stärker in den Fokus zu rücken. „Dies geschieht bisher noch nicht hinreichend.“ Eine Interpretation, wie diese Präventions- und Schutzkonzepte aussehen sollten, können die Autoren anhand ihrer Ergebnisse nicht geben – dazu fehlen Vergleichsstudien, z.B. zur evangelischen Kirche bzw. zu anderen Glaubensgemeinschaften oder Sportvereinen.

Quelle: Dreßing H et al. Psychiat Prax 2019; 46: 256-262; doi: 10.1055/a-0936-3869