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Suizidgefahr bei Krebspatienten „Sollen wir jemanden suchen?“

Autor: Dr. Daniela Erhard

Vor allem schlechte Prognosen lassen Patient:innen verzweifeln und an Suizid denken. (Agenturfoto) Vor allem schlechte Prognosen lassen Patient:innen verzweifeln und an Suizid denken. (Agenturfoto) © Pixel-Shot – stock.adobe.com
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Eine Krebsdiagnose zieht vielen Betroffenen den Boden unter den Füßen weg und kann ihnen den Lebenswillen rauben. Forschende aus Deutschland haben nun erstmals systematisch das Suizidrisiko bei Krebspatient:innen analysiert – und das kann 3,5-mal über dem der Allgemeinbevölkerung liegen. Im Gespräch erklärt Studienleiterin PD Dr. Dr. Corinna Seliger-Behme vom Universitätsklinikum Heidelberg, welche Personen besonders gefährdet sind und worauf behandelnde Ärztinnen und Ärzte achten sollten.

Frau Dr. Seliger-Behme, als Neuroonkologin behandeln Sie vor allem Patient:innen mit Hirntumoren. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich mit der Suizidalität bei Krebskranken zu befassen?

Dr. Seliger-Behme: Einen Teil meiner Weiterbildung zur Neurologin habe ich in der Gerontopsychiatrie absolviert. Dort hatte ich einen Patienten mit fortgeschrittenem Blasentumor betreut, der versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Wir konnten ihn etwas abfangen und stabilisieren, dennoch hat mich das Thema damals sehr beschäftigt und ich wollte mehr dazu wissen. 

Da ich gleichzeitig eine Fortbildung bei den Psychiater:innen halten musste, habe ich dafür das Thema Suizid bei Krebspatient:innen gewählt. Bei der Vorbereitung und der Suche nach entsprechenden Daten in der Literatur habe ich schnell festgestellt: Es gibt zwar viele Einzelstudien, aber nichts Systematisches. Daraus entstand das Projekt, dem genauer nachzugehen.

Und daraus wurde dann ja eine große Metaanalyse ...

Dr. Seliger-Behme: In der Tat (lacht). Daran haben wir mehrere Jahre gearbeitet.

Details zur Metaanalyse

Basierend auf Daten von über 22 Millionen Krebspatient:innen haben Forschende vom Universitätsklinikum Heidelberg und von der Universität Regensburg Häufigkeiten und Risikofaktoren für deren Suizidalität untersucht. Die Analyse ergab, dass Suizide bei Krebspatient:innen im Schnitt fast doppelt so häufig wie in der Allgemeinbevölkerung vorkommen. Menschen mit einer prognostisch besonders ungünstigen Tumorerkrankung und solche, deren Karzinomdiagnose weniger als ein Jahr zurücklag, zeigten in der Studie sogar ein 3,5- bzw. 3-fach erhöhtes Suizidrisiko im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Ein aufällig hohes Suizidrisiko hatten zudem Patient:innen in den USA.

Quelle: Heinrich M et al. Nat Med 2022; 28: 852-859; DOI: 10.1038/s41591-022-01745-y

Was war denn das Wichtigste oder Überraschendste, das Sie dabei herausgefunden haben?

Dr. Seliger-Behme: Sicherlich am wichtigsten war, dass die Prognose den Ausschlag gibt. Also: Je schlechter die Gesamtaussichten der Patientin/des Patienten, desto höher ist die Suizidgefahr. Das passt auch dazu, dass Patient:innen mit einem hohen Tumorstadium deutlich höhere Suizidraten haben. Außerdem haben wir gesehen, dass das erste Jahr nach der Diagnosestellung ein kritisches Jahr ist, und dass – weltweit betrachtet – Krebskranke in den USA besonders gefährdet sind.

Wie sieht die Situation denn bei uns in Deutschland aus?

Dr. Seliger-Behme: Wir haben unter anderem die Daten der deutschen Hodgkin-Studiengruppe analysiert, die sich mit Patient:innen mit einer speziellen Form von Lymphdrüsenkrebs beschäftigt. Deutschland liegt hier ziemlich im europäischen Schnitt mit einem mittleren Suizidrisiko von 1,63 – was in der Nähe des gesamteuropäischen Schätzers von 1,51 liegt. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist das statistisch nicht unterschiedlich, aber verglichen mit Nicht-Krebskranken signifikant höher.

Ist das für alle Tumorentitäten gleich hoch oder nehmen sich Menschen mit bestimmten Malignitäten häufiger das Leben?

Dr. Seliger-Behme: Besonders betroffen sind die Menschen mit sehr schwerwiegenden Krebserkrankungen, also beispielsweise Hirntumoren, Pankreaskarzinomen, Speiseröhren- und Lungenkrebs oder Mesotheliomen. Diese Tumorentitäten haben eine extrem schlechte Prognose, oft sind auch Therapiemöglichkeiten begrenzt oder man entdeckt die Krankheit erst spät. Das sind die Entitäten mit den höchsten Suizidraten.

Sie sprachen das schwierige erste Jahr an. Nimmt das Risiko nach überstandener Erkrankung wieder auf das Durchschnittsniveau der Allgemeinbevölkerung ab?

Dr. Seliger-Behme: Nein. Die extremen Werte vom ersten Jahr gehen zwar zurück. Aber insgesamt bleibt das Risiko erhöht. Das kann auch noch viele, viele Jahre danach so sein. 

Einige Patient:innen entwickeln Rezidive. Muss man bei ihnen wieder häufiger mit Suiziden rechnen?

Dr. Seliger-Behme: Das ist eine interessante Frage. Mit unserer Analyse können wir das nicht klären, weil wir keine longitudinale Auswertung gemacht haben. Wir wissen nur, dass spätere Stadien mit einem erhöhten Risiko einhergehen. Und da würde man vermuten, dass es beim Rezidiv ähnlich ausschaut.

Auch andere Erkrankungen sind häufiger mit Suiziden assoziiert, insbesondere psychische Störungen. Wie ordnen Sie das Risiko bei Krebserkrankten hier ein?

Dr. Seliger-Behme: Wir haben in unserer Studie natürlich keinen direkten Vergleich zu anderen schweren körperlichen Erkrankungen, wie Amyotropher Lateralsklerose, oder seelischen Erkrankungen, bei denen das Suizidrisiko bekanntermaßen teils stark erhöht ist. Deshalb können wir da nur mutmaßen. Unsere Daten legen nahe, dass eine andere somatische Erkrankung mit einer ebenfalls schlechten Prognose ähnliche Suizidraten hervorbringen würde. Vermutlich ist es ja die schlechte Prognose, die hier entscheidet. Das wäre etwas, das man in Folgestudien noch genauer ins Auge fassen sollte, um direkte Vergleiche, z.B. zu Patient:innen mit schweren internistischen oder neurologischen Erkrankungen, zu ermöglichen. 

Sind die Effekte denn tatsächlich auf den Krebs zurückzuführen oder spielen psychische Begleiterkrankungen wie Fatigue eine Rolle?

Dr. Seliger-Behme: Das hätten wir gern untersucht. Leider fehlten die Angaben zu solchen Kofaktoren oft in den Primärstudien. Tatsächlich ist das ein wichtiger und spannender Punkt, denn schlussendlich ist nicht geklärt, ob die Suizidalität aus einer schweren Depression hervorgeht oder ob es manchmal auch der Wunsch nach Selbstbestimmung, auch über den eigenen Tod, ist. Dass die Patient:innen eventuell kalkulieren: „Ich habe sowieso keine langfristige Chance, ich möchte jetzt nicht mehr.“ Es liegt aber nahe, dass die Depression dabei eine große Rolle spielt, und das möchten wir auch gerne noch weiter untersuchen.

Auch wenn die Ursache noch im Dunkeln liegt: Wie kann man das Suizidrisiko für Betroffene denn allgemein reduzieren?

Dr. Seliger-Behme: Ich glaube, bessere Sensibilisierung ist ganz wichtig: Über das Thema sprechen und möglichst früh ansetzen. Und wenn man eine Patientin/einen Patienten hat, der vielleicht noch Andeutungen in diese Richtung macht, sehr niederschwellig Hilfe einleiten – psychoonkologisch, psychotherapeutisch oder auch medikamentös. Gefährdete Menschen äußern teils vorher schon, dass sie an Suizid denken. Man sollte aktiv die seelische Belastung bei Krebspatient:innen abfragen. In der klinischen Routine, bei der die körperlichen Beschwerden in der Regel im Vordergrund stehen, kann die psychische Verfassung sonst auch schnell untergehen.

Auf welche Alarmzeichen sollten behandelnde Ärzt:innen achten?

Dr. Seliger-Behme: Absolut alarmierend ist es natürlich, wenn die/der Betroffene darüber spricht, sich wirklich umbringen zu wollen. Dann ist der Prozess schon weit vorangeschritten. Bis dahin gibt es viele Vorstufen. Man sollte schon gegensteuern, wenn man das Gefühl hat, dass die/der Patient:in seelisch belastet ist und z.B. depressive Symptome zeigt wie Niedergeschlagenheit, Antriebsminderung oder eine allgemeine Interessen- und Freudlosigkeit. Auch vegetative Begleitsymptome wie ein schlechter Schlaf, starker Gewichtsverlust, Grübeln, Unruhe etc. sind typisch.

Zudem können wir aus unseren Daten ablesen, dass man gerade bei den Erkrankten, denen man sehr schlechte Nachrichten überbringt, besonders sensibel vorgehen sollte – auch in der Art, wie man sie darüber aufklärt. Besonders dann sollte man ein Gespür dafür haben, wie das Gesagte bei den Betroffenen ankommt, und gegebenenfalls frühzeitig eine Psychoonkologin bzw. einen Psychoonkologen hinzuholen.

Was kann man im Verdachtsfall konkret tun?

Dr. Seliger-Behme: Wichtig ist, die Lebensqualität so gut wie möglich aufrechtzuerhalten und frühzeitig Unterstützung anzubieten. Einen guten Weg bietet die Psychoonkologie. Da haben wir in Deutschland ein ganz gutes Netz. An großen Krebszentren gibt es in der Regel immer Psychoonkolog:innen, in der ambulanten Versorgung übernehmen das u. a. niedergelassene Psychoonkolog:innen. Gute Unterstützung bieten außerdem Krebsberatungsstellen. Man muss nur daran denken, diesen Schritt zu gehen und mit den Erkrankten darüber zu sprechen. Also direkt fragen: „Sollen wir jemanden suchen?“, um so die erste Hürde zu nehmen. Mir hat eine Patientin aus den USA geschrieben, dass sie für jedes Gespräch – wenn sie denn einen Termin bekommt – mindestens 300 € aus eigener Tasche zahlen müsste. Und mit einem Gespräch ist es ja nicht getan. Da sind wir hierzulande besser dran.

Quelle: Interview


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