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Diabetesberatung in Deutschland „Wir haben die Ärmel hochgekrempelt und angepackt“

Autor: Antje Thiel

V.l.: Die Teilnehmerinnen des ersten Kurses 1983 in Düsseldorf (re.), vier VDBD-Vorsitzende vereint sowie Bettina Brandner (l.) und Annegret Lütke Twenhöven aus dem Gründungsvorstand. V.l.: Die Teilnehmerinnen des ersten Kurses 1983 in Düsseldorf (re.), vier VDBD-Vorsitzende vereint sowie Bettina Brandner (l.) und Annegret Lütke Twenhöven aus dem Gründungsvorstand. © zVg
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Im Jahr 1983 starteten die ersten 30 Gesundheitsfachkräfte in Düsseldorf ihre Weiterbildung auf dem Gebiet der Diabetesberatung, einem damals völlig neuen Berufsbild. Zehn Jahre später gründeten Diabetesberater*innen der ersten Stunde mit dem VDBD ihren eigenen Berufsverband. Zwei der damaligen Pionierinnen erinnern sich an die Anfänge.

Dass eine gute Diabetesversorgung neben gut ausgebildeten und spezialisierten Diabetolog*innen auch intensive Patientenschulung, -beratung und -betreuung braucht, schwante vielen Mitgliedern des Ausschusses „Laienarbeit“ (später: „Schulung und Weiterbildung“) der DDG bereits in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren. Folglich erarbeiteten sie ein Curriculum, mit dem Krankenpflegende und Diätassistent*innen zu „Diabetesberater*innen DDG“ weitergebildet werden sollten. 

Weg von den Verboten, hin zu den Bedürfnissen der Menschen 

Bettina Brandner und Annegret Lütke Twenhöven gehörten zu den ersten 30 Gesundheitsfachkräften, die vor 40 Jahren am Universitätsklinikum Düsseldorf unter Federführung von Professor Dr. Michael Berger ihre Weiterbildung zur Dia­betesberaterin DDG absolvierten. Sie sehen sich bis heute als Pionierinnen, die angetreten waren, um die Diabetesversorgung zu verbessern und mehr an den Bedürfnissen der Betroffenen auszurichten

„Damals bestand die Diabetestherapie vor allem aus Verboten“, erinnert sich Brandner. Menschen mit Diabetes durften z.B. nicht eigenständig ihre Insulindosierung anpassen, „das wurde grundsätzlich stationär gemacht“. Blutzuckerteststreifen gab es nur für Privatpatient*innen, gesetzlich Versicherte mussten sich mit Urintests begnügen. „Und das Insulin wurde noch in Glaskolbenspritzen aufgezogen, die nach Gebrauch ausgekocht werden mussten“, erzählt sie weiter. 

30 Jahre VDBD: Vom Underdog zum geschätzten Partner 

  • Ende 1991, nach etlichen Jahren der Vorbereitung, beschloss eine Gruppe von 65 Schulungsprofis, einen Verband zu gründen. Im Jahr darauf wurde die Satzung verabschiedet, am 28. Juli 1993 schließlich wurde der „Verband der Diabetesberater/-innen in Deutschland e.V. (VDBD)“ ins Düsseldorfer Vereinsregister eingetragen. Gründungsvorsitzende war Annegret Lütke Twenhöven.  
  • Im Jahr 1995 erarbeitete ihre Vorstandskollegin, die legendäre Dr. Brigitte Osterbrink, eine Weiterbildungs- und Prüfungsordnung für die Weiterbildung zur Diabetesberaterin DDG – ein sehr wichtiger und entscheidender Schritt in Richtung einer bundesweiten Anerkennung des Berufsbildes „Diabetesberater*in“. Außerdem arbeitete der Verband an diversen wissenschaftlichen Studien mit, in denen die ersten Schulungsprogramme rund um den Diabetes evaluiert wurden.  
  • 2001, acht Jahre nach seiner Gründung, hatte der VDBD bereits knapp 1.800 Mitglieder. Die folgenden Jahre waren geprägt durch weitere Professionalisierung sowie nationale und internationale Vernetzung. 
  • 2008 gründete der VDBD zusammen mit der DDG die gemeinsame Allianz diabetesDE. Zwischen 2011 und 2014 erfolgte eine Neuausrichtung, eine der Konsequenzen: der Umzug der Geschäftsstelle nach Berlin im Jahr 2015. Seither ist Dr. Gottlobe Fabisch als Geschäftsführerin tätig und hat viel zur Weiterentwicklung des VDBD beigetragen. 
  • Der VDBD veröffentlichte eine Reihe von Leitfäden, z.B. zu Blutzuckerselbstkontrolle und Insulininjektion, die mittlerweile auch unter Ärzt*innen als Standardliteratur gelten. 2016 fiel der Startschuss für die VDBD AKADEMIE, die seither Gesundheitsfachkräften eine professionelle und digitale Plattform für Fortbildung und Zertifizierung bietet.  
  • Ebenfalls 2016 übernahm Dr. Nicola Haller das Amt der VDBD-Vorsitzenden, das sie bis heute innehat.  
  • Ein weiterer Meilenstein war 2018 die Entwicklung des Schulungsprogramms DiaLife, das sich an Angehörige von Menschen mit Diabetes richtet, die häufig ebenfalls psychosozial, finanziell und emotional durch den Diabetes belastet sind.  
  • Aktuell hat der VDBD über 4.000 Mitglieder. Dass der durch ihn vertretene Berufsstand in den Anfangsjahren von Diabetolog*innen oftmals nicht ernst genommen und belächelt wurde, erscheint heute kaum noch vorstellbar.

Twenhöven ergänzt: „Es war eine Zeit, in der noch darüber diskutiert wurde, ob man Menschen mit Diabetes überhaupt zumuten kann, fünfmal am Tag den Blutzucker zu messen und alles selbst zu machen.“ Man habe damals viel über die Betroffenen gesprochen statt mit ihnen. „Das hat sich zum Glück in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt, Menschen mit Diabetes haben mehr Selbstbewusstsein entwickelt“, meint sie.

Daran sind auch die Diabetes­bera­ter*innen der ersten Stunde nicht ganz unbeteiligt. „Anfangs wurden uns fertige Schulungsprogramme vorgelegt, die wir umzusetzen hatten“, erzählt Twenhöven. Begriffe wie „Empowerment“ und „Selbstmanagement“ tauchten darin noch nicht auf: „Die Bedürfnisse von Menschen mit Diabetes standen darin nicht unbedingt im Fokus.“ An welchen Stellschrauben im Behandlungsalltag gedreht werden muss, um die Betroffenen im Alltag mit ihrer Erkrankung besser zu unterstützen, hatten die Diabetesberater*innen aber oftmals besser im Blick als das ärztliche Personal. „Unsere Patienten haben uns schließlich eher mal ihr Herz ausgeschüttet als den Ärzten“, erklärt Brandner.

Professor Mehnert setzte sich für die Berater*innen ein

Mit ihrer eigenen professionellen Sicht der Dinge drangen Diabetesberater*innen anfangs nur schwer in der Ärzteschaft durch. „Mir wurde mal an den Kopf geworfen, ich sei ja nur ‚paramedizinische Assistentin‘“, berichtet Brandner. Bei Fachkongressen erlebten sie und ihre Kolleg*innen, dass Ärzt*innen sich schlichtweg weigerten, Vorträge von Referent*innen ohne abgeschlossenes Medizinstudium anzuhören. „Beim Diabeteskongress 1984 in München gab es sogar Bestrebungen, unsere Teilnahme gänzlich zu verhindern“, erzählt sie weiter. Nur dem Einsatz von Professor Dr. Hellmut Mehnert, der sich an seiner Klinik in München-Schwabing seit jeher für die Schulung von Menschen mit Diabetes starkgemacht hatte, sei es zu verdanken gewesen, dass den Diabetesberater*innen dann doch Einlass gewährt wurde.

Rückblickend betrachtet, hatte der Widerstand, der den nicht-ärztlichen Diabetesprofis vielerorts entgegenschlug, auch etwas Gutes. Denn er spornte die Pionier*innen an, Netzwerke zu bilden, ihr Berufsbild klar zu strukturieren, ihre Ergebnisse zu evaluieren und Bedenkenträger mit Fachwissen zu überzeugen. Oder wie es Twenhöven formuliert: „Wir haben die Ärmel hochgekrempelt und angepackt. Und wenn man uns vorn rausgeschmissen hat, sind wir hinten einfach wieder reingekommen.“

Widerstand von außen führte letztlich zur Gründung des VDBD

Bald war den Diabetesberater*innen der ersten Generation klar, dass sie ihre Positionen nur mit einem eigenen Berufsverband würden vertreten können. Die Gründungsmitglieder des VDBD wählten Twenhöven zu ihrer ersten Vorsitzenden. Die erinnert sich gern an das Wir-Gefühl in den ersten Jahren der Verbandsarbeit zurück: „Wir haben viel gearbeitet, uns oft gefetzt, aber auch viel gelacht. Mein Wohnzimmer war damals auch VDBD-Geschäftsstelle. Wenn ich nach der Arbeit nach Hause kam, lagen dort immer meterweise Faxe herum.“ Ihre Kollegin Brandner war als Schatzmeisterin für die Finanzen zuständig. „Es war eine super Zeit“, sagt sie rückblickend, „man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie sehr wir uns reingehängt haben, um als Berufsbild Anerkennung zu finden.“