Anzeige

Neue Leitlinie Ein Anfall macht noch keine Epilepsie

Autor: Dr. Melanie Söchtig

Nicht jeder epileptische Anfall bedeutet direkt eine Epilepsie, denn es müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein. Nicht jeder epileptische Anfall bedeutet direkt eine Epilepsie, denn es müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein. © catalin – stock.adobe.com
Anzeige

Wann spricht man nach einem zerebralen Krampfanfall von Epilepsie? Welche Komorbiditäten sind zu beachten und welche Therapie ist State of the Art? Antworten darauf liefert die neu konzipierte Leitlinie „Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter“.

Knapp jeder zehnte Mensch erlebt mindestens einen epileptischen Anfall im Laufe seines Lebens. Doch unter welchen Bedingungen kann man davon ausgehen, dass die Betroffenen tatsächlich unter einer Epilepsie leiden? Antworten auf diese Frage liefert die neue S2k-Leitlinie, welche unter Federführung von Prof. Dr. ­Martin ­Holtkamp, Neurologe an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, und Prof. Dr. ­Theodor ­May, Psychologe am Universitätsklinikum OWL der Universität Bielefeld, entstanden ist.

Wann spricht man von Epilepsie?

Die Leitlinie definiert Epilepsie als eine Störung des Gehirns, „die durch eine anhaltende Prädisposition gekennzeichnet ist, spontan auftretende epileptische Anfälle zu generieren“. Sie liegt gemäß internationaler Definition vor, wenn eines der folgenden Kriterien zutrifft:

  • mindestens zwei unprovozierte Anfälle im Abstand von mehr als 24 Stunden
  • ein unprovozierter Anfall und eine Wahrscheinlichkeit für einen weiteren Anfall von mindes­tens 60 % in den nächsten zehn Jahren, was dem allgemeinen Rezidivrisiko nach zwei unprovozierten Anfällen entspricht (nachgewiesen durch epilepsietypische Potenzia­le im EEG und/oder eine potenziell epileptogene Läsion in der MRT)
  • Diagnose eines Epilepsiesyndroms

Zur Abklärung nach einem ersten epileptischen Anfall empfehlen die Leitlinienautoren ein EEG, eine MRT und bei klinischem Verdacht auf eine entzündliche Hirnerkrankung eine Untersuchung des Liquors. Sind die Diagnosekriterien einer Epilepsie erfüllt, ist nach einem unprovozierten Anfall eine anfallssuppressive Medikation (ASM) indiziert, während dies nach einem akut-symptomatischen Anfall bei struktureller oder systemischer Ursache nicht der Fall ist.

Welches Anfallssuppressivum soll man geben?

Bei fokalen, neu aufgetretenen Epilepsien ist gemäß der Leitlinie Lamo­trigin das Mittel der ersten Wahl. Alternativen sind Lacosamid oder Levetiracetam. Valproinsäure ist die erste Wahl bei genetischen generalisierten Epilepsien mit überwiegend Myoklonien und tonisch-klonischen Anfällen.

Bei Patientinnen, die Valproinsäure erhalten, sollte eine Schwangerschaft mit hoher Sicherheit ausgeschlossen werden können. Ist dies nicht der Fall, sind Lamotrigin in einer möglichst niedrigen Dosis oder Levetiracetam (off label) zu bevorzugen. Vor allem bei anfallsfreien Patienten wird von einem Hersteller­wechsel des ASM abgeraten. Lässt sich dieser nicht vermeiden, sollten die Patienten über die Bioäquivalenz der Präparate aufgeklärt werden.

Homöopathische Medikamente, Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) oder Heilpflanzenextrakte sind selbstredend kein Ersatz für Anfallssuppressiva. Da aber die Patienten häufig ergänzende Behandlungen dieser Art wünschen, sollte man sie zumindest über mögliche Interaktionen mit ihrer Medikation informieren. Ein Problem hierbei ist, dass die Betroffenen die Einnahme von naturheilkundlichen Substanzen und Nahrungsergänzungsmitteln meist verschweigen. Die Autoren empfehlen daher, die Patienten direkt danach zu fragen, ob sie nicht verordnete Arzneimittel nutzen. Dabei empfiehlt es sich, offen und wertfrei vorzugehen.

Wann ist ein chirurgischer Eingriff sinnvoll?

Leiden die Patienten unter einer pharmakoresistenten fokalen Epilepsie und sind sie grundsätzlich offen für einen epilepsiechirurgischen Eingriff, ist die Überweisung an ein entsprechend qualifiziertes Zentrum sinnvoll. Zunächst wird anhand bildgebender Verfahren die epileptogene Region lokalisiert und eine neuropsychologische Diagnostik durchgeführt. Ein resektiver epilepsiechirurgischer Eingriff ist nur dann empfehlenswert, wenn der erwartbare Nutzen deutlich höher als das erwartbare Risiko ist.

Welche Komorbiditäten sind relevant?

Depression und Angststörungen zählen zu den häufigsten psychischen Begleiterkrankungen bei Epilepsien. Hinzu kommt, dass psychische Störungen zu den potenziellen Nebenwirkungen von Anfallssuppressiva gehören. Eine medikamentöse anti­depressive Therapie oder Psychotherapie sollte erst begonnen werden, wenn das ausgeschlossen werden konnte. Neben diesen Maßnahmen stehen mittlerweile internet- und mobilbasierte Interventionen zur Verfügung.

Psychogener „Epilepsie-Mimic“: PNEA

Psychogene nicht-epileptische Anfälle (PNEA) können zerebralen Krampfanfällen sehr ähnlich sehen. Sie sind daher die wichtigste neuropsychiatrische Differenzialdiagnose zur Epilepsie. Eine Fehldiagnose führt zu unnötigen Untersuchungen und Behandlungen. Allerdings können PNEA auch im Rahmen einer tatsächlichen Epilepsie auftreten – mit einer Prävalenz von 12 % stellen sie sogar eine der häufigsten psychiatrischen Komorbiditäten dar.

Anders als bei den meisten epileptischen Anfallsformen ist die Symptomatik bei einem psychogenen Anfall oft fluktuierend. Es treten zudem asynchrone Bewegungen und Seit-zu-Seit-Bewegungen von Kopf und Körper auf. Die Augen sind bei einem PNEA meist geschlossen, manchmal auch zugekniffen, und diese Episoden dauern i.d.R. länger als epileptische Anfälle (zwei Minuten und länger).

Was ist sonst noch zu beachten?

Ein ganzes Kapitel der neuen Leitlinie widmet sich psychosozialen Aspekten der Erkrankung. So sollte etwa schon am Anfang der Therapie eine Beratung zu sportlicher Aktivität erfolgen. Auch ist es wichtig zu erfragen, ob Partnerschaft und/oder Sexualität durch die Erkrankung in Mitleidenschaft gezogen werden. Zu Themen wie  Ausbildung und Beruf, Fahrtüchtigkeit und Reisefähigkeit sowie Alkohol- und Drogenkonsum geben die Autoren ebenfalls Empfehlungen.

Einen hohen Stellenwert nehmen dabei Rehabilitation, soziale Beratung und Schulungsprogramme ein. Zudem betonen die Leitlinienautoren die Notwendigkeit, Betroffene sowie deren Angehörige und Partner über das Risiko und die Prävention eines plötzlichen und unerwarteten Todesfalles bei Epilepsiepatienten („sudden unexpected death in epilepsy“; SUDEP) aufzuklären.

Neue technische Hilfsmittel, die unter anderem der Reduktion des SUDEP-Risikos dienen sollen, werden in raschem Tempo entwickelt. Beim Erkennen von Anfällen sollen etwa „Wearables“ und zugehörige Smartphone-Apps unterstützen. Die Leitlinie beruft sich auf eine internationale Konsensusgruppe, die zu dem Schluss kam, dass solche Hilfsmittel prinzipiell fokal zu bilaterale bzw. generalisierte tonisch-klonische Anfälle erfassen können. Der genaue Nutzen der technischen Assistenten kann derzeit aber noch nicht beziffert werden. Wichtig ist, dass die Anfallserkennung zuverlässig und in Echtzeit abläuft und dass die Geräte insbesondere bei nächtlichen Anfällen eine Bezugsperson alarmieren, die auf den Notfall reagieren kann.

Quelle: S2k-Leitlinie „Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter“, AWMF-Register-Nr. 030/041, www.awmf.org