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Diagnostik Wie man dissoziative Anfälle von Epilepsie abgrenzt

Autor: Dr. Angelika Bischoff

Das EEG im anfallsfreien Intervall trägt wenig zur Abgrenzung bei. Das EEG im anfallsfreien Intervall trägt wenig zur Abgrenzung bei. © iStock/Alona Siniehina
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Dissoziative Anfälle können ganz ähnlich aussehen wie epileptische Konvulsionen. Elektrophysiologische Korrelate fehlen aber. Diagnostisch entscheidend ist, dass Betroffene das Erlebte im Arztgespräch frei schildern können.

Patienten mit dissoziativen, also psychogenen Anfällen bewegen ihren Kopf oder ihre Extremitäten wild und unrhythmisch hin und her. Die Augen sind dabei geschlossen, oft fest zugekniffen. Typischerweise halten diese Anfälle länger als zwei Minuten an, wobei sie einen wellenförmigen Verlauf zeigen. Epileptische Frontallappenanfälle können ganz ähnlich aussehen. Sie sind jedoch meist kürzer als 30 Sekunden und treten häufig aus dem Schlaf heraus auf. Patienten mit dissoziativen Anfällen „erwachen“ unbeeinträchtigt, d.h. ohne die nach längeren epileptischen Anfällen obligate Verwirrtheit und Müdigkeit.

Kinder nicht im Beisein der Eltern befragen

Insbesondere aus der Art und Weise, wie Patienten im Arztgespräch ihre Anfälle schildern, lassen sich wertvolle Schlüsse ziehen. Deshalb sollte Betroffenen stets ausreichend Raum gegeben werden, ihr Erleben frei zu schildern. Das bedeutet, man fragt zunächst nicht nach konkreten Symptomen, sondern stellt eine offene Eingangsfrage wie „Können Sie mir erzählen, was eigentlich passiert ist?“. Mit Kindern und Jugendlichen sollte man dieses Gespräch unter vier Augen führen und nicht in Anwesenheit der Eltern. Diese neigen nämlich dazu, für ihre Kinder zu antworten. Und so würde man die entscheidenden Hinweise aus der Art der Schilderung des jungen Patienten selbst verpassen.

Nach dissoziativen Anfällen stellen die Betroffenen eher situative Begleitumstände in den Mittelpunkt, z.B. wo sie gerade gewesen sind und was sie getan haben. Zum Anfallsgeschehen selbst äußern sie sich nur allgemein („Dann weiß ich nichts mehr.“), sodass der Zuhörer keine genaue Vorstellung davon bekommt. Sie differenzieren auch nicht zwischen verschiedenen Ereignissen und teilen keine subjektiven Empfindungen mit. Auffällig ist, dass sie überhaupt nicht über den Moment des Bewusstseinsverlusts sprechen.

Demgegenüber stellen Epilepsie­patienten ihre Anfälle recht differenziert dar. Sie sprechen auch über eigene Versuche, das Geschehen zu beeinflussen. Sie erwähnen Unterschiede im Ablauf verschiedener Ereignisse, bringen subjektive Empfindungen zur Sprache und unterscheiden, was sie selbst erlebt haben und was sie aus Erzählungen von Beobachtern wissen.

Achten sollte man darauf, was die Schilderungen des Patienten bei einem selbst auslösen. Dies ist im Jargon der Psychoanalyse die sogenannte Gegenübertragung. Gewinnt man das Gefühl, dass die Fragen für den Patienten eine Zumutung darstellen, die er schnell abtun will, deutet dies auf dissoziative Anfälle hin. Bei Menschen mit Epilepsie spürt man eher Dankbarkeit darüber, dass sie über ihre Erlebnisse berichten dürfen.

Das Elektroenzephalogramm im anfallsfreien Intervall trägt zur Differenzierung zwischen dissoziativen und epileptischen Anfällen weniger bei als allgemein angenommen. Epilepsietypische Potenziale lassen sich nämlich auch bei < 1 % der gesunden Erwachsenen, bei Kindern und Jugendlichen noch häufiger finden. Deshalb können vor allem bei jungen Patienten dissoziative Anfälle nicht ausgeschlossen werden, wenn man epilepsietypische Potenziale findet.

Durch Psychotherapie oft anfallsfrei

Umgekehrt schließen auch mehrfach unauffällige EEG-Befunde eine Epilepsie nicht aus. Erschwerend kommt hinzu, dass gut 14 % der Kinder und Jugendlichen mit gesicherten dissoziativen Anfällen zusätzlich zerebrale Krampfanfälle zeigen. Bestehen Zweifel an der Dia­gnose, kann ein Langzeit-Video-EEG-Monitoring versucht werden.

Als Ursache der dissoziativen Anfälle betrachtet man heute ein komplexes Zusammenspiel von Vulnerabilität, neuropsychologischen Defiziten, ungünstigen Lebenserfahrungen und neuropsychiatrischen Komorbiditäten. Durch adäquate Psychotherapie lässt sich nahezu die Hälfte der Betroffenen anfallsfrei bekommen, bei einem weiteren Viertel ist die Anfallshäufigkeit deutlich gemindert. Doch die größte Hürde ist, die Patienten zur Therapie zu motivieren, da ihnen meist die Krankheitseinsicht fehlt.

Quelle: Opp J, Job, B. Monatsschr Kinderheilkd 2022; 170: 77-85; DOI: 10.1007/s00112-021-01355-x