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Palliativmedizin: „Sexuelle Gesundheit sollte Standard in Betreuungskonzepten werden“

Autor: Dr. Claudia Schöllmann

Auch stationär brauchen Patienten Privatsphäre – etwa in Paarzimmern. Auch stationär brauchen Patienten Privatsphäre – etwa in Paarzimmern. © iStock/tomazl
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Auch schwer kranke Krebspatienten haben ein Recht, ihre Sexualität selbstbestimmt leben zu dürfen. Deshalb ist es wichtig, auch in der palliativen Situation über dieses Thema zu sprechen. Das ist das Credo der Schweizer Palliativ­expertin und Sexualberaterin Claudia Pesenti-Salzmann. Die Pflegefachfrau mit langjähriger Onkologieerfahrung setzt sich dafür ein, dass Themen der Sexualität bei Ärzten und Pflegepersonal ins Bewusstsein rücken.

Warum ist Sexualität ein Thema für die Palliativmedizin?

Claudia Pesenti-Salzmann: Jede chronische Erkrankung ist ein Risiko für die Sexualität. Sie beeinflusst den Menschen auf mehreren Ebenen – auf der psychoemotionalen, der körperlichen, aber auch auf sozialer Ebene. Wie hoch das Risiko ist, hängt von der Krankheit selbst ab, wo sie lokalisiert ist und von den Behandlungen. Auch wenn man dem Patienten die Erkrankung oder eine Organ­entfernung nicht ansieht, hat sich das „Frau-Sein“, das „Mann-Sein“ oder ganz allgemein das „Sexuelles-Wesen-Sein“ dieses Menschen verändert. Das ist übrigens nicht altersabhängig, denn Sexualität ist ein Lebensaspekt. Sexualität geht nicht in Pension – sexuelle Bedürfnisse auch nicht. Ich habe so oft erlebt, wie kranke Menschen darunter litten, weil sie von den Betreuenden bezüglich sexueller Aspekte nicht angesprochen wurden.

Wenn uns daran gelegen ist, die bestmögliche Lebensqualität in der Palliativmedizin zu erreichen, müssen wir auch über Sexualität reden. Meine Vision ist, dass dieser wichtige Lebensaspekt im Sozial- und Gesundheitswesen als Standard in Betreuungskonzepte integriert wird.

Inwieweit haben Pflegekräfte und Ärzte Vorbehalte gegenüber diesem Thema?

Pesenti-Salzmann: Da gibt es mehrere Barrieren, wie etwa die Angst, dass solche Gespräche zu viel Zeit brauchen. Dann kommt oft noch die Befürchtung dazu, nicht genug zu wissen – und Vorurteile. Wir sind alle nur Menschen und haben unseren „Lebensrucksack“, der unsere Haltung zur Sexualität mit beeinflusst und somit auch unser Handeln.

Ich betone immer wieder bei Schulungen in der Pflege oder mit Medizinern, dass wir nicht von unseren eigenen Projektionen ausgehen oder darauf schließen dürfen, dass das Thema Sexualität zu intim ist, um es anzusprechen. Einige Patienten wollen tatsächlich nicht darüber reden, auch wenn es Herausforderungen gibt. Andere sind aber sehr dankbar, dass es jemand anspricht.

Fest steht: Wenn ich Patienten nicht frage, ob das für sie ein Thema ist, dann weiß ich es schlicht nicht und kann mich nicht darauf einstellen.

Wie sollte man mit Krebspatienten über Sexualität sprechen?

Pesenti-Salzmann: Eine gute Gelegenheit sind Anamnesegespräche. Hier kann man das Thema in den ersten fünf Minuten ansprechen, ohne die Intimitätsgrenzen des Patienten zu überschreiten. Wir haben in der Pflege ja auch keine Probleme, die Menschen nach dem Stuhlgang und dessen Konsistenz zu fragen. Auch ein sehr intimes Thema, oder?

Beispielsweise kann einem Gespräch angefügt werden: „Schauen Sie, ich habe Sie viele Dinge gefragt, weil es uns wichtig ist, Sie bestmöglich betreuen zu können. Ich möchte, dass Sie wissen, dass auch das Thema sexuelle Gesundheit dazu gehört. Da geht es z.B. um „Frau-Sein“, „Mann-Sein“, Partnerschaft, Körperbild, Nähe, Zärtlichkeit, sexuelle Funktionen. Wir müssen jetzt nicht darüber reden, wir haben uns ja erst kennengelernt. Es ist mir einfach wichtig, dass Sie wissen, dass das auch Thema sein kann.“ Damit öffnen Fachpersonen eine Türe, die der Patient jederzeit von sich aus weiter öffnen kann, wie auch betreuende Pflegekräfte, Ärzte oder Therapeuten. Wenn der erste Schritt getan ist, kann man ungezwungen wieder darauf zurückkommen, etwa bei Fragen zur Erkrankung, Therapie, Körperpflege oder bei der Nachsorge.

Welche Themen bewegen Tumorpatienten in der Palliativmedizin besonders?

Pesenti-Salzmann: Sexualität ist so vielfältig wie wir Menschen. Oftmals sind es konkrete Fragen zum veränderten Körperbild oder etwa Fragen, wie der Partner mit dem künstlichen Darmausgang zurechtkommt. Kann ich ihm/ihr das zumuten? Häufig ziehen sich Patienten, aber auch Partner in sich zurück – aus Unfähigkeit, darüber zu sprechen, und entgegen ihrem Bedürfnis nach Nähe, Berührung und Erotik.

Es geht auch darum: Wie wirken sich Medikamente auf meine Körperfunktionen aus? Welche Art von Sex kann ich noch ausüben? Welche Stellungen sind möglich? Gibt es Hilfsmittel? Sind Gleitmittel hilfreich? Also sehr praktische Sachen.

Zum Teil ist das eine große Herausforderung für die Patienten. Und es gibt Situationen, da lernen die Menschen sich selbst oder als Paar neu kennen. Sie erforschen eine adaptierte Sexualität, weil bestimmte Dinge nicht mehr gehen oder anders. Das kann für viele sehr bereichernd sein.

Wie können sich Ärzte oder das Pflegepersonal dem sensiblen Thema Sexualität in der Palliativmedizin nähern?

Pesenti-Salzmann: Ganz wichtig: Im Team braucht es das Bewusstsein, dass Sexualität ein Lebensthema ist und dass sie diesem Raum geben wollen. Wenn das nicht geklärt ist, wird es schwierig. Ich sage immer: In Zukunft darf dieses Thema nicht mehr abhängig sein von der Sensibilität Einzelner, sondern es soll Standard werden. Ich finde, einen guten Job hat man schon gemacht, wenn das Thema beim Patienten angesprochen wird.

Wenn Teams sexuelle Gesundheit in die Betreuung integrieren wollen, ist die Voraussetzung eine Reflexion. Jeder für sich und das Team sollte geklärt haben: Wie ist unsere Haltung? Wie können wir einen gemeinsamen Ansatz teilen? Dieser Prozess gibt Sicherheit und es ist sicherlich sinnvoll, dabei von einer Fachperson der Sexologie unterstützt zu werden.

Was empfehlen Sie konkret?

Pesenti-Salzmann: Haltung – Grundwissen – Kommunikations-Skills. Schon damit kann man Patienten und deren Partnern viel mitgeben, ohne dass dazu eine spezialisierte Sexualberatung notwendig ist. Man sollte jedoch auch wissen, wann es gut ist, eine Fachperson zu involvieren. Stationär gibt es die Möglichkeit mittels Paarzimmer oder Schildern an der Türe den Schwerkranken die nötige Privatsphäre zu geben, damit sie ihre Bedürfnisse, welcher Art auch immer, ausleben dürfen. Der erste Schritt ist immer das Bewusstsein – die praktischen Schritte ergeben sich dann aus der Erkenntnis.

Quelle: Interview

Claudia Pesenti-Salzmann; Pflegeexpertin Palliative Care MAS mit Ausbildung in klinischer Sexologie Claudia Pesenti-Salzmann; Pflegeexpertin Palliative Care MAS mit Ausbildung in klinischer Sexologie © zVg