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Suizidprävention
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Psychische Erkrankungen bei Freitod nur ein Faktor unter vielen

Autor: Maria Weiß

Unbestritten ist, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen ein 10- bis 50-fach höheres Suizidrisiko haben als die Allgemeinbevölkerung. Unbestritten ist, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen ein 10- bis 50-fach höheres Suizidrisiko haben als die Allgemeinbevölkerung. © iStock/KatarzynaBialasiewicz
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90 % aller Selbsttötungen liegt eine psychische Erkrankung zugrunde – dieses Argument ist auch in der aktuellen Debatte zur Sterbehilfe immer wieder zu hören. Doch wie viel Wahrheit steckt in dieser Aussage?

Wenn sich der Großteil der Suizide tatsächlich auf eine psychiatrische Diagnose zurückführen ließe, wäre die konsequente Erkennung und Behandlung psychischer Erkrankungen die beste Suizidprävention, schreiben Prof. Dr. Peter Brieger vom kbo-Isar-Amper-Klinikum München-Haar und Kollegen. Allerdings gibt es auch Selbsttötungen, die auf Basis einer freien Willensentscheidung nach reiflicher Überlegung, z.B. bei schwerer Erkrankung oder sonstiger großer Not, vollzogen werden – also ohne psychische Grunderkrankung. Zudem ist es zu kurz gedacht, aus der Tatsache, dass es bei Menschen mit einer bekannten psychischen Erkrankung zu einer Einengung des Denkens hin zum Suizid kommen kann, darauf zu schließen, dass die psychische Erkrankung ursächlich für die Suizidalität sein muss, schreiben die Autoren.

Suizidrisiko bis zu 50-fach erhöht

Unbestritten ist, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen ein 10- bis 50-fach höheres Suizidrisiko haben als die Allgemeinbevölkerung. Nicht vergessen werden dürfe dabei aber, dass sich 90–95 % dieser Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen einschließlich Depressionen nicht das Leben nehmen, so die Autoren.

Neuere Analysen aus den USA und Italien deuten darauf hin, dass bei höchstens 50 % der Menschen, die sich das Leben nahmen, tatsächlich eine psychiatrische Diagnose vorlag. Ursache bei den anderen 50 % ist häufig eine „tiefe Unzufriedenheit“, die auf anderen Faktoren wie Beziehungsproblemen, Substanzmissbrauch, schweren körperlichen Erkrankungen, akuten Krisen im Beruf, finanziellen Nöten oder juristischen Problemen beruht. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen die Autoren in einer eigenen Auswertung von 626 Suizidfällen aus dem Allgäu.

Aktuelle Zahlen aus Deutschland

Im Jahr 2019 starben in Deutschland 9.041 Personen an einem Suizid – das sind rund 1 % aller Todesfälle. Etwa 75 % von ihnen waren Männer, das mittlere Alter lag bei 59 Jahren. Die Suizidrate pro 100.000 steigt mit dem Alter an und war bei sehr alten Menschen (85–90 Jahre) am höchsten. Seit den 1980er-Jahren sind die Zahlen allgemein rückläufig. Für das erste Corona-Jahr 2020 wurden bislang 9.237 Todesfälle durch Suizid gemeldet – ein pandemiebedingter größerer Anstieg blieb somit aus.

Quelle: Schelhase T. Bundesgesundheitsbl 2022; 65: 3-10; DOI: 10.1007/s00103-021-03470-2

Ihr Fazit: Psychische Erkrankungen sind nur ein Risikofaktor unter vielen für einen Suizid – die Suizidprävention auf die adäquate Behandlung von psychischen Erkrankungen zu begrenzen, greift daher zu kurz. Auch Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in krisenhaften Lebenssituationen, psychischer oder körperlicher Schmerz, fehlende soziale Bindungen, Einsamkeit, Angst vor Strafe, Scham und vieles andere müsste ebenfalls berücksichtigt werden. Nur das genaue Verständnis dafür, mit welchen Motiven und Hintergründen sich jemand das Leben nimmt, kann in Zukunft zu einer verbesserten Prävention führen, so die Autoren. Angesichts der Tatsache, dass sich allein in Deutschland jedes Jahr knapp 10.000 Menschen das Leben nehmen (s. Kasten), ist dies von großer Bedeutung.

Quelle: Brieger P et al. Bundesgesundheitsbl 2022; 65: 25-29; DOI: 10.1007/s00103-021-03464-0


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