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Unterernährung: Wenn Eltern dabei zuschauen, wie ihr Kind verhungert

Autor: Michael Brendler

Oft wird das Geschrei des Kindes nach Essen einfach ignoriert. Oft wird das Geschrei des Kindes nach Essen einfach ignoriert. © iStock/Orbon Alija
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Mal sind es rigide erzieherische Maßnahmen, mal ist es die totale Überforderung der Eltern, die zur Mangel- oder Fehl­ernährung von Kindern führen. Die Gefahr rechtzeitig zu erkennen, ist eine der schwierigsten Aufgaben eines Arztes.

Wahrscheinlich hat die Tante das Leben ihres Neffen gerettet. Sie hatte sich an das Jugendamt gewandt, weil der Dreieinhalbjährige kaum noch laufen konnte und ständig nach Essen fragte. Dessen Mitarbeiter sahen beim Hausbesuch ein apathisches und teilnahmslos blickendes Kleinkind. Der Bauch wölbte sich weit nach vorne, bei gleichzeitig eingefallenen Rippenzwischenräumen und einem Tabaksbeutelgesäß.

Laut Zeugen hatte die getrennt vom Vater lebende Mutter dem Kind nur zu essen gegeben, wenn es „Bitte“ und „Danke“ sagte, berichten Dr. J. Elles und H. Voss vom Brandenburgischen Landesinstitut für Rechtsmedizin in Potsdam. Den Kindergarten hatte der Junge seit sechs Wochen nicht mehr besucht. Auch für den Kinderarzt hatte es beim letzten Untersuchungstermin acht Monate zuvor noch keinerlei Anlass zur Sorge gegeben.

Organische Gedeihstörung stets ausschließen

Ein Körpergewicht und eine Körpergröße unterhalb der dritten Perzentile müssen aber in jedem Fall aufmerken lassen, so das Autorenduo. Die Alarmglocken sollten auch schrillen, wenn die Gewichts- und Wachstumsperzentile im Vergleich zur vorhergehenden Untersuchung um mehr als zwei Hauptperzentilen abgefallen sei. Verhaltensbeobachtung und psychosoziale Anamnese seien weitere Säulen der Diagnostik, auch um Interaktionsstörungen zwischen Eltern und Kind festzustellen. Eine organische Gedeihstörung müsse aber stets ausgeschlossen sein.

In einem anderen Fall war der Notarzt zu einem etwa sechs Monate alten Säugling gerufen worden, da dieser sich nicht mehr bewegte. Der Mediziner stellte den Tod ohne „weitere Auffälligkeiten“ fest. Bei der Autopsie sahen die Rechtsmediziner dann ein massiv abgemagertes Baby, in dessen Magen-Darm-Trakt kaum Nahrung zu finden war. Gewicht und Körperlänge lagen weit unterhalb der dritten Perzentile.

Chronische oder akute Unterernährung?

Anhand der Waterlow-Klassifikation lässt sich der Schweregrad einer Unterernährung ermitteln. Danach ist das Wachstumsdefizit das Maß für eine chronische Unterernährung (Retardierung), das Gewichtsdefizit aber das Maß für eine akute Unterernährung. Das hat den Vorteil, dass das reale Gewicht nicht anhand altersspezifischer Referenzwerte beurteilt wird, sondern altersunabhängig am Erwartungswert für die reale Körpergröße.

Das Schreien des Kindes einfach überhört

Die Eltern gaben an, ihrem Kind nur in den ersten Lebenswochen regelmäßig Nahrung gegeben zu haben. Dann seien andere Dinge wie Fernsehen oder Computerspielen wichtiger geworden. Man habe Mahlzeiten ausgelassen und das Schreien des Kindes einfach überhört. Der Mutter war durchaus bewusst gewesen, dass sie das Leben ihres Kindes gefährdete. Sie hatte sich aber mit der Situation überfordert gefühlt. Dem Umfeld war zwar aufgefallen, dass der Säugling immer magerer wurde, unternommen hatte aber niemand etwas. Arzt und Jugendamt hatten das Baby nach der Entbindung nicht mehr zu sehen bekommen. „Die Gründe für eine Vernachlässigung sind vielfältig“, schreiben die Autoren. Sie reichen von „erzieherischen Maßnahmen“ bis zur Ablehnung des Kindes und zur Überforderung der Eltern. In Brandenburg, von wo die beiden Fälle berichtet werden, existiert inzwischen ein sogenanntes Zentrales Einladungs- und Rückmeldewesen ab der Vorsorgeuntersuchung U6 – den Säugling, der vor Einführung dieser Maßnahme starb, hätte auch das wohl nicht retten können. Eher geholfen hätte vielleicht die Anbindung der Familie ans Jugendamt, schreiben die Autoren. Gefordert seien aber auch die Pädiater: Für sie stelle es eine der schwierigsten und verantwortungsvollsten Aufgaben dar, selbst ein gesundes Maß an Aufmerksamkeit für dieses Thema zu entwickeln und die Eltern zu sensibilisieren und aufzuklären.

Quelle: Elles J, Voss H. Monatsschr Kinderheilkd 2019; 167: 241-245